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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
Autoren: Peter Handke
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noch niemals zuvor von einem Pilzsucher ausfindig gemacht worden war – geschweige denn geplündert und verwüstetvon den einheimischen Altenschaften oder gar dem sonst in die entlegensten Waldzipfel ausschwärmenden zugewanderten Clan. Jene Stelle erwies sich dann nicht bloß als eine Stelle, vielmehr als ein ganzes Land, in seiner Vorstellung, indem das Pilzland über Stunden und Stunden sich dehnte und unerschöpflich wurde, als ein Kontinent. Wo er auch hinschaute, hinging, hinlief, hinstürzte, abzweigte, Haken schlug, Bäche, Totholz, kleine Schluchten übersprang: Gelb, Gelb und wieder Gelb. Wie er auch sammelte, mit der Zeit eher beidhändig, links, rechts, links, pflückte, erntete, einholte: die Gelben im Bergmoos, die »Füchslein«, wie die Clanleute das aus ihrem Slawischen übersetzten, die »Reherl«, die »Finferli«, die »setas de San Juan« (erst viel später ihm geläufige Namen) wurden nicht und nicht weniger, das »Gelben« – »solch ein Wort wäre, wie ›Blauen‹, ›Grünen‹ und ›Grauen‹, da am Platz gewesen!« erzählte er mir lange danach –, das »Gelben« hörte nimmermehrauf. Ob von daher sein späterer Blick für alles Andersfarbige, das Andersrote, das Andersgraue, das Andersgelbe kam?
    Was aber tagsüber, zumindest zeitweise, noch fassungsloses Staunen, ja Entzücken gewesen war, das verwandelte sich in der folgenden Nacht, die mein Pilznarr notgedrungen in einer leerstehenden Almhütte zubrachte, in etwas anderes. Das Ansichtigwerden der Pilze des heiligen Johannes ging im Schlaf des jungen Menschen weiter. Nachtlang träumte er, träumte ihm, wie er im tiefsten Bergunterholz hockte und dort von einer Hocke in die andere mehr taumelte als hüpfte, wieder so einem Gelbeinsprengsel nach, und so weiter, und so weiter, nachtlang. Ein Schwarz vor den Augen war nichts, war etwas Harmloses im Vergleich zu diesem myriadenfachen, von einem wie ins Unendliche sich hinziehenden, nein, sich verzerrenden Gelb, Gelb und wieder Gelb vor den Träumeraugen. Undnoch einmal nein: das unaufhörliche, nicht von dem Schlafenden ablassende Gelb hatte er nicht »vor« Augen – es sprang diese immerzu an, stahl sich in sie hinein, irrlichterte so wie unter seinen pausenlos zum Einsammeln gezwungenen Händen gleichzeitig in seinem Innersten, bis das vor lauter gelbem Gekringel, Gekräusel und Gezüngel buchstäblich weder ein noch aus wußte: Jetzt und jetzt würde er erstickt werden von dem Gelb mal Gelb mal Gelb; jetzt und jetzt würde dieses potenzierte Gelb, gelb hoch drei, hoch vier, hoch fünf und so fort, ihm das Herz in der Brust zum Zerplatzen bringen – oder von all dem Giftgelbangriff würde das Herzblut vertrocknen-vergilben.
    Es war vielleicht nicht allein solcher Alptraum, welcher ihn von seinem ersten, dem jugendlichen, Pilznarrentum abbrachte. Jedoch trug der Traum, dessen war er sich gewiß, mehr als sonst was – etwa die auswärtigen Schulen, fern in den Städten, die erstenLiebschaften, das Erleben anderer Freundschaften als der mit dem Kind des Nachbarn –, entscheidend dazu bei, die Welt der Pilze sein zu lassen, oder zumindest hinter die Horizonte, hinter die sieben Berge zu rücken, wo wir beide herstammten, zumal er sich von dem Pilzgeld längst all das hatte kaufen können, was sein, damals noch ganz bescheidenes Herz begehrte.
    Das hieß freilich nicht, daß er es in Hinkunft vermied, ob in der heimischen Gegend oder sonstwo, in die Wälder zu gehen. Diese waren, aufgrund seiner Sammlerstreifzüge, eins seiner Elemente geworden, wenn auch anders als vorher die Säume, Ränder und die Lichtungen. Immer noch sammelte und heimste er dabei Pilze ein, aber ohne eigens ein Ausschauhalten oder gar Suchen – einzig, wenn sie ihm mir nichts dir nichts so unterkamen. Und immer noch waren es fast nur die Pilze des St. Johann, Alp hin, Alp her. Selbst wenn sich dann so viele fanden,daß sie in ihrer Schwere an die Waage im türlosen Eingang der Sammelstelle erinnerten, dachte er keinmal mehr an ein Verkaufen. Nicht daß er kein Geld mehr nötig hatte – das fehlte ihm auch nach der Kindheit noch Jahr um Jahr –: Es widerstrebte ihm inzwischen, zu Geld zu kommen durch so etwas wie »Handel«, jedenfalls einen solchen; Geld sollte ihm »hereinkommen« durch edlere Tätigkeiten – was auch immer die wären.
    So überließ er die jeweils so zufälligen wie beiläufigen Wälderfunde anderen, zuhause in der Regel der Mutter. Diese spielte dann, meistens, und wenn er nicht gar zu
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