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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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Sonnenuntergang. Ich glaube, weil er nicht zu viel über das nachdenken will, was geschehen ist. Er baut mit Johann und Olaf eine gute, stabile Brücke über den Finsterbach. Sie haben auch ein großes Stück aus der alten Mauer herausgesprengt, damit man ein Tor darin einlassen kann. Bald ist der Wald für alle da. Und sie werden kommen. Die Schwarze Stadt wird zu uns hereinkommen, so wie Joern es einmal gesagt hat. Doch es ist gut so.
    Mama ist oft hier auf dem Norderhof, und tatsächlich unterhält sie sich mit Frentje über Eintöpfe. Demnächst wird sie ganz herziehen. Flint hat gesagt, das Gutshaus ist groß genug für alle. Zum Glück hatten die vier D keine Lust mitzukommen.
    Als ich in den Wald gegangen bin, um all dies aufzuschreiben, saßen Mama und Flint in der Sonne vor dem Haus. Flint hatte endlich eine Pause gemacht vom Brückenbauen und einen Tisch aufgestellt. Dort tranken die beiden zusammen Tee. Sie benehmen sich immer sehr höflich, so wieentfernt Verwandte, von denen der eine lange in Amerika gelebt hat. Obwohl ich glaube, insgeheim sind sie immer noch ineinander verliebt. Man muss abwarten, was geschieht. Nichts eilt.
    Flop, der jetzt bei uns wohnt, ist sehr ruhig geworden. Aber eines Tages wird er wieder durch den Wald rennen und seine Ohren flattern lassen. Eines Tages wird Joern nur noch eine ferne Erinnerung für ihn sein. Nur ich, ich werde ihn nie vergessen. Seit er in die Todesschlucht gefallen ist, sind fünf Tage vergangen. Zu viele, um noch auf ein Wunder zu hoffen.
    Ich rede viel mit Onnar. Und manchmal schweige ich mit Onnar. Dann sitzen wir auf der Bank neben der Schafkoppel und denken an Joern, unseren Bruder. Es wird wohl nie wieder jemand so einen mutigen Bruder haben.
    Aber je –

Endlich komme ich dazu, das Ende meiner Geschichte zu schreiben. Denn als ich das vor zwei Tagen tun wollte, tippte mir jemand auf die Schulter und unterbrach mich mitten im Satz.
    »Almut?«, fragte ich und drehte mich um.
    Doch es war nicht Almut, die hinter mir auf der Lichtung stand.
    Es war jemand in sehr zerfetzten Kleidern mit einer Menge Schrammen im Gesicht. Jemand, der ein samtschwarzes Pferd am Zügel hielt. Jemand mit braunem Haar und moosgrünen Augen.
    Joern.
    Zuerst dachte ich, es wäre Joerns Geist.
    »Warum sitzt du mitten im Wald und schreibst?«, fragte er verwundert. »Warum wachsen dort weiße Lilien und warum liegt zwischen den Lilien ein Stein? Ich würde sagen, er sieht aus wie ein Grabstein. Wer ist denn gestorben?«
    Doch ich konnte nicht antworten. Ich starrte ihn einfach nur an, mit offenem Mund.
    »Lasse?«, fragte Joern. »Bist du stumm geworden?«
    »Na… nein«, brachte ich schließlich hervor. »Wieso … Woher … Du bist doch tot!«
    »Glaube nicht«, sagte Joern und setzte sich neben mich ins Gras.
    Ich streckte ganz vorsichtig meine Hand aus und berührte seinen Arm. Er fühlte sich nicht an wie ein Geist.
    »Au!«, sagte Joern und krempelte seinen zerschlissenenÄrmel hoch. Ein dicker blauer Fleck war darunter zu sehen.
    »Ach, da ist noch einer«, meinte Joern. »Sie sind überall. Genau wie damals nach der Demonstration und dann nach der Prügelei mit Pöhlkes Leuten. Ich glaube, ich bin verdammt dazu, mein Leben lang von oben bis unten voller blauer Flecke zu sein. Der verdammte Finsterbach hat mich ziemlich weit mitgenommen und er hat mich zerschlagen wie eine Wäscheschleuder voller Kieselsteine. Hör mal, Lasse, ist es in Ordnung, dass ich hier bin?«
    »Ja, natürlich ist es in Ordnung!«, rief ich. »Es ist jetzt alles anders! Onnar läuft irgendwo mit Johann herum und Mama trinkt Tee mit Flint – aber wieso haben sie dich vom Hubschrauber aus nicht gesehen? Wieso hat dich keiner von unseren Leuten gefunden?«
    Joern zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sie nicht weit genug flussabwärts gesucht. Oder sie haben nicht schnell genug damit angefangen. Nur einer, der ist sofort losgeritten, als ich gefallen bin.«
    Nordwind schnaubte zustimmend und senkte seinen Kopf, um ein Grasbüschel abzurupfen.
    »Eine ganze Weile konnte ich nicht denken«, sagte Joern. »Da war nur Wasser um mich und Oben und Unten waren schwer auseinanderzuhalten. Es war wie bei den Stromschnellen damals, nur viel, viel schlimmer. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, floss der Fluss langsamer und dann packte mich jemand und zog mich heraus. Das war der Weiße Ritter. Der Kjerk. Holm. Er war geduldig neben mirhergeritten, ohne zu wissen, ob ich überhaupt noch lebte. So lange,
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