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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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Rücken und wir ritten zusammen durch den grünen Wald. Der kleine schlappohrige Hund rannte uns voraus, schnüffelte an den Bäumen und wurde so aufgeregt, dass ich Angst hatte, er könnte Westwind vor die Hufe geraten.
    »Da mach dir mal keine Sorgen«, sagte Joern. »Vor ein Auto ist er auch noch nicht gekommen in der Schwarzen Stadt! Ich wette, er hat noch nie etwas so Interessantes gerochen wie diesen Wald, und da muss man ihm verzeihen, wenn er ein bisschen spinnt.«
    »Seine Ohren«, sagte ich, »sehen aus, als flögen sie gleich ohne ihn davon, so wie sie hin und her floppen. Wie heißt er?«
    »Flop«, antwortete Joern und da mussten wir beide lachen.
    Wie wunderbar es war, so durch den Wald zu reiten! In den Ästen sangen die Vögel, in den Büschen schimpften kleine Tiere, weil Flop sie beschnüffelte, und die Sonne schien durch die Blätter. Und hinter mir, auf Westwinds starkem Rücken, saß Joern.
    »Wohin reiten wir?«, fragte er.
    »Zu meinem liebsten Platz«, antwortete ich.
    Mein liebster Platz ist eine Lichtung mitten im Wald, zwischen uralten Eichen. Der Fluss fließt dort breit und langsam vorüber, an seinem Ufer stehen Trauerweiden, die ihre Äste ins Wasser hängen wie Angeln, und auf den Steinen dazwischen sonnen sich Blindschleichen. Unter der dicksten Eiche hat eine Kaninchenfamilie ihren Bau. Wenn man ganz still im Gras liegt, halten sie einen eine Weile für einen Baumstamm. Irgendwann merken sie, dass man kein Baumstamm ist, und hoppeln plötzlich panisch davon und man kann sich totlachen über die dummen Kaninchen. In der Mitte der Lichtung jedoch steht eine junge Linde, die ihre hellgrünen Blätter im Wind wiegt wie in einem Tanz. Ich weiß genau, wie alt diese Linde ist, sie ist zwölf, wie ich.
    Mein Vater hatte sie als winzigen Keimling gepflanzt, damals, als er auch den Stein auf die Lichtung brachte, auf den die Zweige der Linde jetzt ihre grünen Schatten werfen und den das hohe Gras verbirgt. Auf dem Stein stehen die Worte: Du und ich, ich und du, in Ewigkeit . Mehr nicht. Das ist der Grabstein meiner Mutter und deshalb ist es gleichzeitig wunderschön und schrecklich traurig, die Linde anzusehen. Früher bin ich immer zu ihr geritten, wenn ich Kummer hatte, und habe ihr berichtet, was schon wieder schiefgegangen war. Und die Lindenblätter rauschten wie zur Antwort.
    Doch an diesem Tag erzählte ich Joern nichts von meinerMutter, die bei meiner Geburt gestorben war, und ich zeigte ihm auch den Stein nicht. Wir legten uns auf den Rücken ins Gras und alles war einfach nur hell und schön.
    »Du lebst in einer komischen Welt«, sagte Joern. »Ist es hier immer so? Singen jeden Tag die Vögel und scheint jeden Tag die Sonne? Und reitest du jeden Tag durch den Wald?«
    Ich rollte auf die Seite, stützte mich auf einen Ellenbogen und sah ihn an. »Nein, manchmal regnet es natürlich«, sagte ich. »Dann reite ich nicht durch den Wald. Dann steht Westwind bei den anderen Pferden im Stall und wir basteln Modellflugzeuge oder erfinden Seilbahnen für das Treppengeländer. Oder wir verstecken uns im Keller und erschrecken Frentje, wenn sie herunterkommt, um etwas zu holen.«
    »Wer ist Frentje?«, fragte Joern. »Und mit wem erfindest du Seilbahnen?«
    »Oh, manchmal mit Almut und manchmal mit Flint«, erklärte ich. »Flint ist mein Vater. Almut ist zehn. Frentje ist ihre Mutter und unsere Köchin.« Ich lachte. »Wenn du das alles auf einmal wissen willst, muss ich dir eine Liste machen! Aber sie wird nicht lang, denn es gibt nicht viele Leute auf dem Norderhof.«
    »Dort, wo ich herkomme, gibt es zu viele Leute«, sagte Joern und eine dunkle Wolke zog über sein Gesicht, obwohl der Himmel so blau war wie zuvor. »Alles ist voller Leute. Die Straßen, die Geschäfte, die Busse … und in unserer Wohnung sind wir auch zu viele. Es gibt nie genug Platz für alle. Hier habt ihr unendlich viel Platz.«
    »Ja«, sagte ich. »Platz haben wir wohl eine Menge.« Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.
    »Die Mauer«, sagte Joern nachdenklich. »Ich glaube, ich weiß, warum sie da ist.«
    »Warum?«, fragte ich.
    Da stützte sich auch Joern auf seinen Ellenbogen und sah mich an. »Hier ist alles schön«, sagte er. »Und draußen ist alles hässlich. Die Mauer ist da, damit das Hässliche nicht hereinkommt. Damit das Schöne hier drinnen nicht kaputt gemacht wird.«
    Ich nickte.
    »Es sind zwei Welten«, fuhr Joern fort. »Diesseits und jenseits des Finsterbachs. Sie dürfen sich nicht
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