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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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zeigen. »Aber dafür«, sagte er, »ist es noch nicht Zeit, Lasse.« Und er sah sehr ernst aus dabei.
    Zum Glück war er nicht oft ernst. Viel lieber machte er Unsinn mit uns Kindern vom Norderhof: Er ritt mit mir und Frentjes wilder Tochter Almut um die Wette, dass die Blätter des Waldes nur so nach allen Seiten stoben. Oder er baute am Bach Schiffchen für Almuts kleinen Bruder Tom. Oder er warf Elly in die Luft, das Baby von Herrn Marksen, und Elly gluckste vor Vergnügen. Wir hatten jede Menge Spaß auf dem Norderhof.
    Nur manchmal, wenn Flint in seinem Zimmer am Computer arbeitete, um unser Geld zu verdienen, merkte ich, wie allein ich war. In diesen Momenten wünschte ich mit aller Kraft, ich hätte einen Freund, einen Jungen, so alt wie ich, mit dem ich alles teilen konnte: den Wald und den Werkzeugschuppen und alle Abenteuer. Und das Rätsel der Welt draußen. Aber dann kam Flint aus seinem Arbeitszimmer und wir machten ein Lagerfeuer am Fluss und ich vergaß meine Sehnsucht nach einem Freund. Und die Dinge waren wieder gut, wie sie waren.
    An diesem Morgen jedoch sollte sich alles ändern.
    Die Schafskoppel lag auf einer Lichtung mitten im Wald. Die Schafe hatten sich in einer Ecke am Zaun versammelt. Ich ließ mich von Westwinds Rücken gleiten und kletterte über das Gatter. Als ich über die taunasse Wiese ging, sah ich, dass Johann schon da war. Er kniete bei den Schafen im Gras und hielt eines der Lämmer im Arm. Etwas stimmte nicht mit seiner Farbe. Ich begann zu rennen.
    Als ich neben Johann anhielt, sah er auf.
    »Perwol«, sagte er. »Es ist Perwol.«
    Perwol war der Name des kleinsten Lammes. Es war erst drei Tage alt. Ich kniete mich neben Johann. Dann machte ich den Mund auf, um etwas zu sagen. Aber ich konnte nichts sagen.
    Es war zu schrecklich.
    Das Fell des Lamms war nicht mehr weiß, sondern rot. Auch Johanns helles Hemd war rot, überall war Rot – an seinen Händen, an seiner Brust, in seinem Gesicht. Das allerröteste Rot. Ein Mutterschaf hatte sich über Johann gebeugt und schnupperte an dem Lamm. Es lag ganz still in Johanns Armen. An seinem Hals klaffte eine große Wunde, aus der war das rote Blut gelaufen. Nun war es versiegt.
    »Ist es … ist es … tot?«, fragte ich. »Was … was ist passiert?«
    »Ich hörte die Schafe rufen«, sagte Johann. »Es war kein Fuchs, der das Lamm gerissen hat. Auch kein streunender Hund. Die Wunde ist seltsam glatt, so als stamme sie von sehr scharfen Zähnen. Scharf wie eine Klinge.«
    »Wie eine Klinge?«, fragte ich leise und nahm Johann das tote Lamm ab, um es an mich zu drücken und den Rest seiner Wärme zu spüren. »Mach’s gut!«, flüsterte ich. »Mach’s gut, Perwol!«
    Ich sah noch genau vor mir, wie Perwol an seinem ersten Tag versucht hatte, auf den staksigen Beinen zu laufen, und wie er dauernd umgefallen war. Sein Leben hatte gerade erst begonnen und nun war es zu Ende. Das machte mich traurig und wütend zugleich.
    »Was für ein Tier war das, Johann?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Johann. »Etwas ist im Wald. Es ist von draußen hereingekommen. Etwas Böses. Ich werde die Schafe später auf die andere Koppel treiben, die näher beim Hof liegt.« Er stand auf. »Komm, Lasse. Besser, du bleibst nicht allein hier.«
    Später weinte ich lange in Flints Armen, obwohl ich zwölf bin und ein Junge und obwohl ich selten weine. Ich weinte um das Lamm Perwol, aber ich weinte auch um den Norderhof und um den Wald und um das goldene Licht. Denn ich wusste, dass nichts so bleiben würde wie bisher. Etwas war gekommen, hatte Johann gesagt: von draußen.
    Und während der eine Teil von mir weinte, sagte sich der andere, dass es Zeit war: Zeit für eine Veränderung. Zeit, all die Dinge kennenzulernen, die ich nicht kannte. Dunkle Dinge, gefährliche Dinge. Ich würde dem, der unsere Lämmer riss, schon auf die Schliche kommen. Doch allein konnte ich es nicht. An diesem Tag wurde meineSehnsucht nach einem Freund so groß, dass es wehtat. Und vielleicht lag es daran oder vielleicht war es Zufall: Einen Tag später traf ich ihn. Meinen ersten und einzigen Freund.

Nachtspat
    D as Erste, was Joern an jenem Morgen hörte, waren die Sirenen eines Krankenwagens. Er fragte sich, ob diese Sirenen wohl das Erste gewesen waren, was er zu hören bekommen hatte, damals, vor zwölf Jahren. Und ehe Joern wirklich wach war, formten seine Lippen schon die Worte: Lass es nicht Onnar sein, lass es nicht Mama sein! Lass es jemand anders
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