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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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kleiner Drache.
    Joern nahm den Ring von den Augen. Er merkte, dass er zitterte.
    »Es ist wahr«, flüsterte er, »was sie über den Stein sagen. Ich … ich dachte nicht, dass es so wahr ist.« Er legte seineWange an Flops warme, atmende Flanke. Und dann wisperte er ein Wort in sein Fell, ein magisches Wort, das er schon als kleines Kind nur geflüstert hatte. Den Namen des Steins: »Nachtspat.«
    Flop zuckte zusammen.
    »Er schläft unter der Erde in den Stollen«, sagte Joern leise. »Denn sie bauen dort unten nicht nur Kohle ab. Sie bauen auch den Stein ab. Onnar hat mir davon erzählt. Oben, in der Fabrik, da schleifen sie ihn und machen Schmuck daraus. Dort stehen die Frauen an den Maschinen, während die Männer in den Stollen umherkriechen. Mama ist eine von ihnen, sie säubert die Schleifmaschinen. Ob sie je durch so einen Stein gesehen hat?«
    Flop hatte die Augen schon wieder geschlossen. Wenn ich nur einen Freund hätte, dachte Joern, um mit ihm über den Ring zu sprechen!
    Onnar war ein Freund und Flop war ein Freund. Aber Onnar war erwachsen und Flop war ein Hund. Und die Jungs in Joerns Klasse waren zu anders. Sie lebten einfach vor sich hin, ohne nachzudenken, als wären die Kohle und die Schwärze und die Kälte nun mal da und man könnte nichts dagegen tun. Man konnte nichts dagegen tun. Außer durch den Nachtspat zu sehen.
    Joern schob die Schublade zurück und stand auf, die Faust um den Ring geschlossen. Wem hatte er gehört? Wer waren I & D? Er erinnerte sich vage an eine Geschichte darüber, dass seine Eltern die Kommode vor langer Zeit gebraucht gekauft hatten. Hatte der Besitzer seinen Ring damals überall gesucht? Und warum hatte er den Ring überhaupt versteckt?
    »Er muss eine Menge wert sein«, flüsterte Joern. »Wir können ihn verkaufen und uns einen größeren Küchentisch besorgen oder einen richtig guten Fernseher. Oder am besten ein Kleid für Mama, so ein wertvolles wie in den Katalogen, die sie immer anguckt, mit Samt und Stickerei am Ausschnitt.«
    Aber wann hätte Mama das Kleid tragen sollen? Unsinn. Er dachte schon wieder in seinen Bücherwelten, wo Frauen zufällig auf Tanzbällen reiche, nette Männer kennenlernten. Mama konnte noch nicht mal tanzen. Wozu auch. In Fabriken wurde nicht getanzt.
    Onnar hatte einmal gesagt, Mama wäre verliebt. Seit Jahren, hatte er gesagt. Heimlich. Er wüsste es. Nur in wen, das verriet Onnar Joern nicht.
    Joern beschloss, Onnar zu wecken und ihm den Ring zu zeigen. Er tappte durch die Küche und wollte die Tür zum Wohnzimmer öffnen, wo Onnar auf dem Sofa schlief. Doch dann ließ er es sein. Onnar schlief überhaupt nicht. Jemand war bei ihm. Sie unterhielten sich so leise, dass Joern es im Flur nicht gehört hatte. Er blieb ganz still stehen und lauschte. Und das gute Gefühl vom Finden des Rings verschwand schlagartig. Denn er ahnte, was sie dort drinnen besprachen, und es machte ihm Angst.
    »Also wird die nächste Nachtschicht die erste sein«, sagte Onnar eben. »Die erste, die nicht stattfindet.«
    »Und wenn der Große uns hinauswirft?«, fragte einer, denJoern nicht kannte. »Du hast keine Frau und keine Kinder, dir kann es egal sein. Wenn Pöhlke und die Gewerkschaft mitspielen würden, wäre es etwas anderes …«
    »Vergiss die Gewerkschaft«, unterbrach ihn Onnar. »Wir haben ein Recht, zu streiken! Die Sicherheit in den Stollen ist katastrophal. Auch an den Maschinen in der Fabrik. Denk daran, was heute Morgen passiert ist. Es gibt zu viele Unfälle. Und zu wenig Geld. Vielleicht trägt unser Herr Gewerkschaftschef Pöhlke ja eine der Brillen aus der Fabrik – eine Brille mit Nachtspat anstelle von Glas. Vielleicht sieht er die Unfälle in schönen bunten Farben und die Zahlen auf den Lohnabrechnungen größer und glänzender.«
    »Man hört so einiges«, sagte eine dritte Stimme. Diese Stimme kannte Joern. Sie gehörte Holm, Onnars bestem Freund, der so irre Grimassen ziehen konnte. Holm hatte viele Abende bei ihnen in der winzigen Küche verbracht. »Man hört«, sagte er, »bei seinem letzten Besuch hätte der Große dem jungen Pöhlke erklärt, er wäre sein tüchtigster Arbeiter.«
    Onnar pfiff durch die Zähne. »Dem Sohn unseres Mannes mit der Nachtspatbrille? Vielleicht ist er tüchtig, aber sein Kopf ist so leer wie meine Geldbörse. Sein Vater, der sich Gewerkschaftschef schimpft, der ist schlauer, als man denkt. Der junge Pöhlke hingegen …«
    »Ihr wisst doch, wie der Große die Fabrik damals übernahm«,
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