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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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heutige Tag würde sich in die Kette aus endlosen, lichtlosen Tagen einreihen, dachte Joern. Sie glichen sich wie Kohlen, schwarz und staubig.
    Aber Joern irrte sich.
    Nach dem Frühstück nahm er Flop an die Leine, rannte die vier Stockwerke hinunter und ließ sich von dem kleinen Hund um die grauen Häuser ziehen. Flop schnüffelte so begeistert an den Häuserecken, als wären sie ein Feld voller Kaninchen und bunter Blumen.
    »Du bist schon ein bekloppter Hund«, sagte Joern und wuschelte ihm durchs Fell.
    Dann brachte er ihn wieder hinauf in die Wohnung, ehe er zur Schule ging. Die Wohnung war jetzt still und leer. Alle anderen waren fort und Onnar schlief sicherlich. Auf der alten Kommode im Flur lag ein Stapel ausgeliehener Bücher, die Joern zurückbringen musste. Wenn nur alles anders gewesen wäre, dachte er. Wenn er nur in einer Geschichte aus der Bücherei hätte leben können, in einer Welt voller Abenteuer und Kaminfeuer, in der die Leute Väter hatten, die abends am Klavier lustige Lieder sangen. In einer Welt, in der man morgens auf einem braunen Pferd in die Wälder ritt und Ungeheuer besiegte und Schätze fand. Einer Welt ohne Kohle.
    Er seufzte, band seinen einen Schuh neu und wollte endlich los – da riss der Schnürsenkel. Joern fluchte. Eilig zog er die Schubladen der Kommode auf und begann darin nach einem Schnürsenkel zu suchen. Die Schubladen waren vollgestopft mit Knöpfen, Blumendraht, einzelnen Handschuhen, heilen und kaputten Glühbirnen, ausgeschnittenen Briefmarken. Joern riss an der untersten, die ein wenig klemmte – und plötzlich hielt er sie im Ganzen in der Hand. Er kniete sich hin, um sie wieder an ihren Platz zurückzuschieben. Hinter die Schublade hatte jemand einige Zeitungsseiten gelegt. Vermutlich als Maßnahme gegen den Schimmel, der die alten Möbel so gern befiel.
    Vielleicht klemmte die Schublade ja, weil die Zeitungsseiten umgeknickt waren, dachte Joern. Er griff nach hinten und zog das Papier heraus. Da spürte er, dass etwas in die Zeitung eingewickelt war. Etwas Kleines, Hartes. Er fühlte, wie seine Hände feucht wurden vor Aufregung. Hatte er sich nicht eben noch gewünscht, einen Schatz zu finden?
    Flop kam herangetrottet und schnupperte an dem Zeitungspaket. Dann nieste er.
    Joern lachte. »Ist es etwas, wogegen du allergisch bist, Flop?«
    Er löste die Zeitung vorsichtig, Schicht um Schicht, und sein Atem ging bei jeder Schicht schneller. Das Paket in Joerns Hand war inzwischen nur noch so groß wie sein Daumennagel. Dies musste die letzte Lage Zeitungspapier sein.
    Joern wickelte das Papier von dem Gegenstand ab und hielt etwas Rundes, Goldenes in seiner Hand. Im schmierigen Licht, das durchs Flurfenster fiel, glänzte es so hell, als hätte jemand es erst vor Minuten poliert.
    »Ein Ring!«, flüsterte Joern und Flop schien zu nicken. Aber vermutlich wippten nur seine Schlappohren auf und ab.
    Joern fand eine Prägung auf der Innenseite des Rings: 925. Es war echtes Gold. Außer der Zahl stand noch etwas in dem Ring. Zwei Buchstaben: I & D.
    »Weißt du, was das bedeutet, Flop?«, fragte Joern. »Es ist ein Trauring! Ein Ehering, verstehst du? Aber nicht der von Mama. Erstens hat sie ihren verkauft, als sie geschiedenwurde, und zweitens war er sicher nicht aus Gold. Und drittens heißt sie Ada. Hier, sieh mal!«
    Er kniete sich auf den Boden und hielt Flop den Ring vor die feuchte Hundenase. Mitten in der goldenen Rundung befand sich ein Loch und darin glitzerte ein Edelstein. Nein, er glitzerte nicht wirklich. Er schien mehr. Blass und bescheiden, geheimnisvoll. So wie der Mond, wenn er durch die Kohlenstaubdecke über der Schwarzen Stadt schimmerte. Der Stein war etwas größer als ein Stecknadelkopf. Gerade groß genug, um hindurchsehen zu können, wenn man ein Auge zukniff.
    Joern hielt ihn vors Flurfenster und sah hindurch.
    Er hatte geahnt, was er sehen würde. Und doch ließ es ihn taumeln. Hätte er nicht schon gekniet, hätte er sich irgendwo festhalten müssen. Er sah den Flur wie durch trübes Glas, doch alles wirkte anders. Der Flur war plötzlich schön: bunt, lustig und fröhlich. Die Ecken der alten, hässlichen Kommode verbogen sich zu Schnörkeln. Die kahle Glühbirne an der Decke sprühte Funken in allen Farben des Regenbogens. Das Blütenmuster der verblichenen Tapete schien zu einem ganzen Garten heranzuwachsen, Gräser sprossen aus dem Teppichboden und Flop sah jetzt nicht mehr aus wie ein Hund, sondern wie ein seltsam gefärbter
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