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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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bringen wie ein Feuerwerk …
    Er nahm den Ring aus der Tasche, holte tief Luft und sah zum zweiten Mal an diesem Tag durch den Stein. Und plötzlich musste er lachen. Die Welt sah zu verrückt aus durch den Nachtspat. Die verkümmerten Tannen leuchteten in einer Farbpalette zwischen Blau und Violett und ihre Äste bogen sich in merkwürdigen Kringeln wie Lakritzschnecken. Unten zischte ein zitronengelber Fluss zwischen grünen Felsen entlang. Statt der bedrohlichen Gischt schwebten Tausende von schillernden Seifenblasen durch die Schlucht und vor Joern auf dem Weg hopste wieder das kleine Fabelwesen entlang, von dem er wusste, dass es eigentlich Flop war. Diesmal hatte es Flügel.
    Schließlich sah Joern durch den Stein auf die andere Seite der Schlucht. Dort sprossen aus den dicken Mauersteinen glänzende Pfauenfedern und aus einem Loch in der Mauer sah jemand in einem so fürchterlich bunten Anzug heraus, dass Joern die Augen kurz zusammenkniff. Der Anzug war grün und blau gefleckt mit gelben Punkten und rosa Streifen. Allerhöchstens geeignet für einen Clown. Der, der ihn trug, hatte violettes Haar. Er war ungefähr so groß wie Joern, und soweit Joern es in dem Farbdurcheinander erkennen konnte, war er auch ungefähr so alt.
    Moment, dachte er. Veränderte der Nachtspat die Dinge nicht nur? Ließ er einen auch Dinge sehen, die überhaupt nicht da waren? Es konnte keinen Jungen auf der anderen Seite der Mauer geben. Nicht im militärischen Sperrgebiet.
    Joern nahm den Ring von den Augen.
    Der Clownsanzug verschwand.
    Der Junge verschwand nicht.
    Sein Haar war jetzt ganz normal braun, so wie das von Joern. Er trug ein blaues T-Shirt und abgewetzte Jeans. Und er starrte Joern an. So als hätte er auf der anderen Seite der Mauer alles erwartet, nur keinen Jungen in seinem Alter.

Das röteste Rot, das schwärzeste Schwarz
    A n diesem Tag konnte ich nicht aufpassen. Herr Marksen erzählte irgendetwas über das menschliche Auge, aber er hätte genauso gut über die verschiedenen Arten von Klospülungen auf dem Mars sprechen können, ich hörte sowieso nicht zu. In meinen Gedanken war nur Rot, das röteste Rot aller Rots.
    Ich sah noch immer die toten Augen des Lamms vor mir und die klaffende Wunde an seinem weißen Hals. Und ich hörte noch immer Johanns Worte: Etwas ist im Wald.
    »Was ist los mit dir, Lasse?«, flüsterte Almut und versuchte ihr wirres Kastanienhaar hinter die Ohren zu streichen, wo es nie länger blieb als zwei Sekunden.
    »Nichts«, flüsterte ich.
    Almut war erst zehn und ich wollte ihr nichts von dem toten Lamm erzählen. Tom war sogar erst fünf, aber Herr Marksen unterrichtete uns immer alle zusammen. Er ging herum und erklärte jedem, was er machen musste, schreiben oder lesen oder rechnen. Und wenn er Glück hatte, taten wir das dann. An diesem Tag hatte er mit mir kein Glück.
    »Du bist ganz woanders, Lasse«, sagte er. »Es ist besser, du gehst nach Hause. Wir machen morgen weiter.«
    Denn ich lebe in einer Welt, müsst ihr wissen, wo man nach Hause geschickt wird, wenn man nicht aufpassen kann. Doch ich ging nicht nach Hause. Ich schwang mich auf Westwind und ritt davon in den Wald. Natürlich hatte ich Angst vor dem, was da im Wald lauerte, aber was immer es war, es war sicherlich nicht schneller als Westwind.
    Ich ritt tief, tief hinein in den Wald und stellte mir vor, hinter mir auf Westwinds starkem Rücken säße der Freund, den ich mir so sehr wünschte. In meiner Fantasie galoppierten wir zu einem geheimen Ort, der nur uns gehörte, um dort einen Plan zu machen, wie wir das fangen könnten, was in den Wald gekommen war. Im Grunde wusste ich, was es war.
    Es war ein Kjerk.
    Flint hatte uns von den Kjerks erzählt, abends, am Lagerfeuer im Wald, wo wir jeden Sommer Würstchen brieten und in Schlafsäcken schliefen. Als er jung gewesen war, hatte es viele Kjerks im Wald gegeben. Sie waren groß und gefährlich, aber wie sie genau aussahen, hatte er nicht erzählt. Jetzt, hatte er erklärt, gäbe es keine mehr, man habe sie fortgejagt, damit Friede einkehrte. Ehrlich gesagt: Bisher war ich der Meinung gewesen, mein Vater hätte sich die Kjerks ausgedacht. Nun begriff ich, dass es sie wirklich gab. Und dass einer von ihnen wiedergekommen war.
    Ich vergaß völlig, auf den Weg zu achten, bis Westwindplötzlich stehen blieb und sich schüttelte. Da merkte ich, dass wir vor der Mauer standen, hinter der das verminte Stück Wald lag.
    Ich hatte keine Ahnung, wie es jenseits davon
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