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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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sagte Holm. »Er war einer wie wir. Hat den Nachtspat entdeckt, der zwischen der Kohle schlief. Und deshalb hat der alte Besitzer ihn zum tüchtigsten Mann erklärt. Erhat ihm seinen ganzen Besitz vererbt. Es heißt, wenn der Große stirbt, erbt wieder der tüchtigste Arbeiter alles. Das Bergwerk und die Fabrik.«
    »Holm?«, fragte Onnar. »Wir wissen das alles. Was willst du uns eigentlich sagen?«
    »Liegt das nicht auf der Hand?«, fragte Holm zurück. »Wenn der Große jetzt sterben würde, wäre der junge Pöhlke sein Erbe. Sein Kopf ist leer, aber wir können ihn füllen. Er wird auf das hören, was wir Arbeiter ihm sagen. Alles würde besser werden.«
    »Es ist ohnehin egal«, meinte Onnar. »Bis der Große stirbt, dauert es Jahrzehnte.«
    »Wer weiß«, sagte Holm.
    Und da lief es Joern eiskalt den Rücken hinunter, genau wie den Helden in den Büchern aus der Bücherei, und er trat von der Tür zurück. Ab heute Abend würden sie streiken. Und was immer es war, das sie noch planten, er wollte es nicht wissen. Er wollte nichts mehr wissen von den Stollen und der Fabrik und dem Großen, dem all das gehörte und den die Arbeiter so sehr hassten. Er wollte nur weg, weg von allem, so weit weg wie möglich.
    »Komm, Flop«, flüsterte er und machte sich auf den Weg in den Keller, wo sein altes, klappriges Rad stand. Er wusste, wohin er fahren würde. Die Schule konnte warten.
    Auf der einen Seite der Schwarzen Stadt lag der ausgehöhlte, durchlöcherte Berg, aus dem sie die Kohle und den Nachtspat holten.
    Auf der anderen Seite, ziemlich genau gegenüber, lag der Fluss. Er war nicht breit, aber gewaltig. Schwarz war er, schwarz wie die Stadt, und hatte sich tief in den felsigen Untergrund gegraben. Dort unten rauschte er durch die Schlucht wie ein langer geschlängelter Drache aus vergessenen Zeiten, voll weißer Gischt, als hätte er Schaum vor dem Maul.
    Am anderen Ufer des schwarzen Flusses erhob sich auf den Felsen eine hohe, alte Mauer aus riesigen Steinquadern, bewachsen von Moos und Gestrüpp.
    Joern fuhr den Pfad an der Schlucht entlang und lehnte das Rad an einen Baum. Zwischen dem Pfad und der Stadt lagen ein paar Felder und ein kleines Wäldchen aus verkümmerten Tannen. So konnte man hier ungesehen herumsitzen und nachdenken. Niemand außer Joern kam an diesen Ort, denn die Leute aus der Schwarzen Stadt gingen nicht spazieren. Sie hatten keine Zeit. Oder vielleicht hatten sie vergessen, dass es Dinge gab wie Bäume und Pfade und Flüsse.
    Flop schnüffelte aufgeregt an einem Busch und Joern ließ ihn von der Leine. Dann begann er flussabwärts zu wandern, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Auf der Mauer wand sich scharfer Stacheldraht und darunter hing ein Schild: MILITÄRISCHES SPERRGEBIET. BETRETEN VERBOTEN. LEBENSGEFAHR. Das Schild war mit ein Grund dafür, dass Joern gerne herkam. Es hatte etwas Aufregendes, an einer Mauer entlangzugehen, hinter der verbotenes militärisches Gebiet lag. Man erzählte sich in der Schwarzen Stadt, der Wald dort wäre vermint, noch aus demKrieg, und wenn man nicht irgendwelchen übenden Truppen in die Schusslinie lief, würde man vermutlich auf eine Mine treten und in die Luft fliegen.
    Allein schon die Mauer anzusehen, die den ganzen riesigen Wald jenseits des Flusses zu umfassen schien, bewirkte, dass sich die winzigen Härchen in Joerns Nacken aufstellten und sein Herz rascher schlug. Eines Tages, dachte er, wenn er erwachsen wäre, würde er eine Brücke über den Fluss bauen und einen Weg finden, über die Mauer zu kommen. Sie war mindestens vier Meter hoch, aber er würde es schaffen. Und dann würden sie schon sehen, ob man einen wie Joern einfach in die Luft sprengen konnte. Doch jetzt gab es Wichtigeres zu bedenken.
    Er tastete nach dem Ring in seiner Tasche. Heute Abend würde er mit Onnar reden. Wie viel der Ring wohl wert war? Vielleicht mehr als ein Fernseher. Vielleicht konnte man von dem Geld die Wohnung neu tapezieren, den Schimmel verjagen, der überall herumkroch. Oder verreisen. Joern war noch nie verreist.
    Und wenn du ihn einfach behältst? , fragte eine kleine Stimme in ihm. Wenn du niemandem etwas davon erzählst? Du könntest den Ring unter deine Matratze legen und jeden Morgen durch das Stück Nachtspat sehen, nur ganz kurz. Und die grauen Dächer wären nicht mehr grau, sondern bunt, und die Kohlenstaubwolken würden sich in weiße Tauben verwandeln und in den Straßen würde der Sonnenaufgang den nassen Asphalt zum Gleißen
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