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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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wirklich aussah. Womöglich war der Kjerk ja von dort gekommen.
    Ich saß ab und führte Westwind am Zügel die Mauer entlang. Jemand musste sie vor unendlich langer Zeit gebaut haben, lange vor den Minen. Es war doch komisch, dachte ich plötzlich, dass nur auf der anderen Seite der Mauer noch Minen herumlagen. Hatte man die hier entschärft? Warum hatte man sie nicht einfach alle entschärft?
    Ich wanderte eine ganze Weile, doch die Mauer blieb gleich hoch und gleich unüberwindbar. Oben hatte jemand Stacheldraht angebracht. Jemand, der nicht wollte, dass man hinüberkletterte. Wer? Ich überlegte, ob ich es versuchen sollte. Jetzt, wo es Zeit wurde für alles Mögliche, wurde es vielleicht auch Zeit, dass ich auf die Mauer stieg. Während ich eine gute Stelle suchte, begann Westwind das Gras am Fuß der Mauer zu fressen. Und dann entdeckte ich das Loch. Es war genau dort, wo Westwind graste.
    »Westwind!«, sagte ich. »Du bist das schlauste Pferd, das ich kenne.«
    Ich bezweifelte, dass Westwind mir wirklich das Loch hatte zeigen wollen, aber es schadete ja nichts, ihn sicherheitshalber zu loben.
    Das Loch war ziemlich groß. Wenn man sich klein machte, konnte man sicher hindurchkriechen. Einer der Steinquader fehlte einfach. Er lag vermutlich auf der anderen Seite.
    Ich ging in die Hocke, um durch die Öffnung zu spähen. Und erschrak.
    Jenseits der Mauer gab es nur einen Felsvorsprung von etwa einem halben Meter Breite. Dahinter fiel die Felswand steil ab.
    Ich kroch ein Stück weiter in das Loch hinein und hörte sehr weit unter mir einen Bach rauschen. Sein Wasser war vom schwärzesten Schwarz, das ich je gesehen hatte.
    Ob es derselbe Bach war, der an einer anderen Stelle als breiter, freundlicher Fluss durch unseren Wald floss? Derselbe, auf dessen sanft gekräuselter Oberfläche ich schon so oft Borkenschiffe hatte schwimmen lassen? Derselbe Bach, an dem ich Forellen geangelt hatte und in dem ich mit Flint um die Wette geschwommen war?
    Nein, dieser Bach dort unten duldete keine Borkenschiffe und keine Schwimmer und nicht einmal die allerwagemutigste Forelle hätte sich freiwillig in seine Strömung begeben.
    »Finsterbach«, sagte ich leise vor mich hin. »Finsterbach in der Todesschlucht.«
    Die Worte klangen schaurig und schrecklich und schön zugleich. Hier begann das Abenteuer, die Veränderung, für die es Zeit wurde.
    Ich sah vom Finsterbach zur anderen Seite der Todesschlucht. Dort war kein Wald, so wie alle es immer behauptet hatten. Nur Brombeersträucher wuchsen auf der anderen Seite und ein paar verkümmerte Tannen. Hinter ihren dürren Stämmen konnte ich ein Feld sehen, und da ,in der Ferne, lag etwas Großes, Schwarzes. Noch schwärzer als der Finsterbach.
    Es waren Häuser. Viele Häuser. Es war etwas, das ich nur von Bildern in Büchern kannte: eine Stadt. Aber keine der Städte in den Büchern war so schwarz gewesen. Über der Stadt hing eine Wolke am Himmel und selbst diese Wolke war schwarz.
    Ich tastete nach Westwind und legte eine Hand auf seinen warmen, weichen Hals. Er schnaubte mir seinen freundlichen Atem in den Nacken. In diesem Moment bemerkte ich, dass sich drüben, jenseits der Schlucht, etwas bewegte. Ein Hund lief dort auf und ab, ein kleiner Hund mit wehenden Schlappohren, und außerdem stand da jemand.
    Es war ein Junge, ungefähr so alt wie ich. Er hielt etwas vor seine Augen, etwas Kleines, Glänzendes. Dann nahm er es herunter und starrte mich an. So als hätte er auf der anderen Seite der Mauer alles erwartet, nur keinen Jungen in seinem Alter.
    Nun stellt euch vor, ihr habt euer ganzes Leben lang gedacht, hinter einer Mauer wäre nur Wald und dann gibt es dahinter eine Schwarze Stadt und eine mörderische Schlucht und einen Jungen.
    »Hey!«, rief ich.
    »Hey!«, rief der Junge zurück.
    Dann rief ich noch einmal »Hey!« und dann fiel mir nichts mehr ein.
    Zugegeben, das war kein besonders interessantes Gespräch. Aber wenn man sehr verblüfft ist, fällt einem nichts Interessanteres ein als »hey«.
    Eine Weile starrten wir uns über die Schlucht hinweg an. Das Haar des anderen Jungen hatte die gleiche Farbe wie meines: Braun. Doch es war sehr kurz, so als hätte man es mit einem Rasierer geschnitten. Er trug eine graue Jacke mit Löchern an den Ärmeln und ziemlich hässliche Hosen in grünem Militär-Tarnmuster.
    »Ich bin Lasse!«, rief ich schließlich. »Woher kommst du?«
    »Aus der Schwarzen Stadt«, antwortete der Junge und da war mir, als rieselten lauter
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