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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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als ein sachlicher Bau aus Glas, Stahl und Beton. Sie blickte aus dem Fenster hinunter in die Kaiserstraße. Es war kurz nach sieben und noch dämmrig. Vereinzelte Sterne schimmerten blass am heller werdenden,wolkenlosen Himmel. Es würde ein schöner Herbsttag werden.
    Noel und Leon stürmten in die Küche und ließen sich auf ihre Plätze plumpsen. »Guten Morgen, Mami«, sagten sie wie aus einem Mund. Sie trugen die gleichen Sachen: Jeans und graue Kapuzenshirts. Das war ungewöhnlich. Seit sie in die Pubertät kamen, grenzten sie sich mehr und mehr voneinander ab. Auch deshalb war die Entscheidung, sie in Parallelklassen unterzubringen, richtig gewesen. So hatten es nicht nur die Lehrer mit der Unterscheidung der Zwillinge leichter, sondern auch die Jungs die Möglichkeit, sich unabhängig voneinander zu behaupten, denn nach und nach kristallisierten sich Unterschiede in ihren Fähigkeiten heraus. Während Noel gut in den naturwissenschaftlichen Fächern war, lag Leons Begabung im Bereich der Musik und der Sprachen. Seit einigen Jahren lernte er mit großem Erfolg Querflöte und hatte bereits bei einigen Schulkonzerten mitgewirkt. Beim Sommerfest der Musikschule war er der Star des Abends gewesen. Mit Vivaldis Flötenkonzert in D-Dur hatte er alle begeistert. Alle bis auf Albert. Babs erinnerte sich nicht gerne daran. Sie fuhr Leon mit der Hand durchs Haar und setzte sich zu den Jungs an den Tisch. Während sie Tee trank, warf Noel Leon einen verschwörerischen Blick zu. Leon grinste wie ein Messdiener, der vorhatte, die Hostien zu verstecken. Babs überlegte kurz, was sie wohl ausheckten, aber dann fiel ihr ein, dass Noel heute eine Schulaufgabe in Latein schrieb. Sie hoffte, dass er gestern noch Vokabeln gelernt hatte. Die erste Latein-Ex des Jahres hatte er verhauen. Wobei das natürlich subjektiv betrachtet war – er hatte eine Drei geschrieben. Aber in Alberts Augen war das eine schlechte Zensur, und deshalb hatte er Noel angedroht, seine Mitgliedschaftim Volleyballverein zu kündigen, wenn die Noten nicht besser wurden.
    »Hast du gestern noch Latein gelernt?«
    Noel nickte und hielt ihrem Blick stand, bis sich ein Lächeln in seine Mundwinkel stahl. Leon grinste bis über beide Ohren.
    »Hat Leon dich abgefragt?« Er hatte mit Latein keinerlei Probleme, war sogar Klassenbester. Wieder nickte Noel und schob eilig eine Ladung Flakes in den Mund. Irgendwas war hier faul. Babs musterte die beiden eingehend.
    Noel prustete los und spuckte dabei Flakes zurück in die Müslischale. »’tschuldigung, Mami«, sagte er und wischte sich den Mund mit der Serviette ab.
    Leon schaufelte konzentriert und ohne aufzusehen Frühstücksflocken in sich hinein. Plötzlich ahnte sie, was die beiden planten. Noel war ein begeisterter Volleyballspieler, beinahe jedes Wochenende war er mit der Mannschaft bei Turnieren, und Albert war ein strenger Vater. Er würde mit seiner Drohung Ernst machen. Mit Fleiß alleine würde Noel keine besseren Noten erzielen, ihm fehlte einfach das Gefühl für diese Sprache, ganz im Gegensatz zu Leon. Trugen sie deshalb identische Klamotten? Planten sie für heute einen Klassentausch?
    Wenn sie eine gute Mutter sein wollte, konnte sie einen solchen Betrug nicht durchgehen lassen. Sie musste ihre Söhne von dieser Scharade abhalten. Doch das Kind in ihr, das sie einmal gewesen war, kicherte still in sich hinein. Musste sie nicht nur dann einschreiten, wenn sie wusste, was die Kinder planten? Und um es zu wissen, musste sie ihnen auf den Zahn fühlen.
    Als hätten die beiden ihren inneren Disput bemerkt, beendeten sie in Windeseile ihr Frühstück und stürmten ausder Küche. »Wir müssen noch unsere Sachen packen«, sagte Leon, bevor er die Tür hinter sich schloss.
    Die beiden holten ihre Pausenbrote und verabschiedeten sich in dem Moment, als Albert zum Frühstück kam. Er fuhr ihnen durch die Haare und wünschte Noel viel Erfolg bei seiner Schulaufgabe. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Babs ging zum Fenster wie jeden Morgen und sah ihren Jungs nach, bis sie um die Ecke verschwanden. Albert trat hinter sie und legte seine Arme um ihre Hüften. Seine Bemerkung, dass er einen Fick dringend nötig gehabt hatte, ging ihr wieder durch den Kopf. Allein dieses Wort, das bisher nicht zu seinem Wortschatz gehört hatte und das auch nicht zu ihm passte. Und dann sein Versuch, diese Äußerung in einen Scherz umzumünzen, nachdem er ihre Bestürzung bemerkt hatte. Hatte er sich womöglich einfach

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