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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille
Autoren: Inge Löhnig
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P ROLOG
    Unter der Stiege, die in den Keller führte, befand sich ein Verschlag, der früher zum Einlagern der Kohle gedient hatte. Schwarzer Staub klebte noch in Ritzen und Ecken, aber das konnte der Junge, der dort auf einem Stapel alter Decken und Vorhänge kauerte, nicht sehen, da es beinahe dunkel war. Doch er nahm den öligen Geruch wahr.
    Er fühlte sich aus seiner Welt geworfen, wie einer der Helden aus den Sagen, die er so gerne las. Auch wenn ihre Aufgaben unlösbar erschienen, kehrten sie stets siegreich zurück. Kühn, mutig und stark fanden sie immer einen Weg, ihre Ziele zu erreichen. Er dagegen war kein Held und er fand den Weg nicht, sosehr er auch danach suchte.
    Durch den zerschlissenen Stoff drang die Kälte des Bodens; der alte Vorhang, den er wie die Decken aus der Altkleiderkiste genommen und sich um die Schultern gelegt hatte, wärmte nicht. Der Junge fror und war hungrig. Aber am schlimmsten war der Durst. Der Schlüssel zur Waschküche und damit zum Wasserhahn hing unerreichbar am Bord oben im Flur.
    Nochmals griff er nach dem leeren Glas, vielleicht hatte sich etwas Feuchtigkeit daran niedergeschlagen. Seine trockene Zunge fuhr über die glatte Oberfläche. Sie war kalt, sonst nichts. Er ließ den Arm sinken, das Glas kullerte über den Boden. Der stumpfe Schmerz in seinem Kopf verstärkte sich von Minute zu Minute. Er legte ihn in den Nacken und war kurz davor zu weinen.
    Von weiter oben drang ein schwacher Lichtschimmerin die Finsternis. Dort befand sich, dicht unter der Decke, ein vergittertes Fenster, das schon viele Jahre nicht mehr geöffnet worden war. Die Scheibe lag unter einer Schicht von Schmutz und Spinnweben verborgen. Ob es Tag oder Nacht war, erkannte der Junge daran, ob ein trüber Schein durchdrang oder nicht. Er ließ jedoch keine Rückschlüsse auf das Wetter zu, weder ob die Sonne schien noch ob es regnete. Er malte sich aus, dass es regnete. Ein Sommerregen, der mit einigen warmen Tropfen begann, die auf dem von der Sonne erhitzten Pflaster sofort verdampften. Spurlos, als wären sie nie gewesen. Ihnen folgte ein heftiger Schauer, der die Sandsteinplatten dunkel färbte und kleine Mulden in Pfützen verwandelte, in denen die nachfolgenden Tropfen frech spritzten wie tollende Kinder. Dann setzte ein warmer Wind ein, der den Regen vor sich hertrieb, Nässe schwer in Blütendolden setzte, sie nach unten bog, in Büsche und Bäume fuhr, sie ruppig streichelte wie ein Vater, der seinem Sohn mit einer beinahe groben Geste durchs Haar strich, einer Geste, in der doch alle Liebe und Anerkennung lag, die beide verband.
    Unbewusst hatte der Junge begonnen, das Adagio aus Vivaldis
L’Estate
zu summen. Die Musik, die diese Bilder in ihm erweckte. Die Musik, die er beinahe über alles liebte. Beinahe. Warum fiel ihm die Entscheidung so schwer?
    Die Beine waren ihm eingeschlafen, lagen taub unter seinem Körper, begraben wie tote Tiere. Langsam richtete er sich auf, streckte sie aus, wartete, bis das Blut schmerzhaft in sie schoss, mit tausend Nadeln stechend. Ihm wurde schwindlig, kalter Schweiß bildete sich auf seiner Haut, bunte Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, dann wurde es dunkel.
    Als er wieder zu sich kam, klopfte der Schmerz in seinem Kopf, als wollte etwas Lebendiges den Schädelknochen durchdringen. Seine Zunge lag wie ein Stück Holz im Mund; die Lippen waren rissig und aufgeplatzt. Der Gedanke an ein Glas Wasser rief einen so fürchterlichen Schmerz in ihm hervor, dass er aufstöhnte. Mit letzter Kraft kroch er zurück auf die Decken. Er musste endlich zu einer Entscheidung kommen, erst dann durfte er nach oben gehen. Doch seine Gedanken drehten sich seit zwei Tagen im Kreis. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, aber er wollte beides. Und das ging nicht. Das sah er ja ein. Trotzdem suchte er weiter einen Ausweg. Aber er hatte keine Kraft mehr zu denken. Der alles beherrschende Gedanke war der an einen Schluck Wasser.
    Langsam erhob er sich, seine Beine zitterten vor Schwäche. Schwankend ging er auf die Treppe zu, stieg sie steif und ungelenk empor, zog sich am Handlauf Stufe um Stufe nach oben. Er schob die Tür zum Flur auf. Das Licht blendete ihn. Sein Blick fiel über den Gang in die Küche auf den Wasserhahn. Sein Herz begann zu rasen. Eine Gestalt kam auf ihn zu. Seine Mutter. Sie wollte ihn umarmen. Er stieß sie weg. Wasser. Er machte noch zwei Schritte, dann brach er zusammen.

M ONTAG , 13 . O KTOBER
    Der Schein der Straßenbeleuchtung drang durch die
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