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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille
Autoren: Inge Löhnig
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sexuell abreagiert? War es ihm nur darum gegangen? Nicht um Nähe, Liebe und Vertrautheit?
    Albert löste sich von ihr und setzte sich. »Gibt’s schon Kaffee?«
    Babs fuhr aus ihren Gedanken hoch, schenkte ihm eine Tasse ein und schob ihm den Brotkorb mit den aufgetauten Semmeln hinüber. Obwohl sie bisher ausschließlich Hausfrau war, hatte ihr Ehrgeiz, daraus eine Profession zu machen, seine Grenzen. Jeden Morgen frische Semmeln zu holen ersparte sie sich. Mit etwas Glück würde der heutige Tag zum Wendepunkt und sie von der
Nurhausfrau
zu einer
Frau mit Doppelbelastung.
    Eine halbe Stunde später ging sie mit Albert in die Kinderarztpraxis. Sie lag um die Ecke in einem vierstöckigen Haus am Kurfürstenplatz, das ihrem Schwiegervater gehörte. Die Hoffnung auf einen schönen Herbsttag schien sich zu erfüllen. Über den blauen Himmel stoben ein paarWolken, der Wind war allerdings zu kalt für diese Jahreszeit. Babs zog den Mantel fester um sich.
    Als sie die Praxis betraten, saß Margret Hecht, die Sprechstundenhilfe, schon hinter dem Empfangstresen und suchte Patientenakten heraus. Sie war eine magere Fünfundzwanzigjährige mit bleichem Teint, sommersprossigem Gesicht und der Neigung, Hektik zu verbreiten, wo Ruhe angebrachter gewesen wäre.
    Babs verschwand im Büro und erledigte bis halb zehn Schreibarbeiten. Das tat sie hin und wieder, froh, dem Hausfrauendasein ein wenig entfliehen zu können. Heute allerdings diente ihr diese Beschäftigung eher als Ablenkung vom bevorstehenden Vorstellungsgespräch. Als sie fertig war, ging sie zu Albert, um sich zu verabschieden. Er brachte sie zur Tür und gab ihr im Hausflur einen flüchtigen Kuss. Noch anderthalb Stunden bis zu ihrem Termin.
    »Drück mir die Daumen.«
    Ein ratloser Ausdruck erschien auf Alberts Gesicht. »Weshalb?«
    Er hatte es vergessen! Schon als sie ihm von Carolines Vermittlung erzählt hatte, war seine Reaktion gleichgültig gewesen. »Aus finanziellen Gründen musst du das nicht tun«, hatte er gesagt. Als ob es darum ginge.
    »Für meinen Termin bei der Wohnzeitschrift.«
    »Ach das«, sagte er lächelnd. »Das wird schon klappen.«
    Ein Ruf von der Treppe unterbrach sie. »Herr Doktor!« Loretta Kiendel, die Mieterin der Wohnung unter dem Dach, kam durchs Treppenhaus herunter. Von Beruf war sie Fachverkäuferin für Haushaltswaren. Aber nebenbei putzte sie bei Alberts Vater und verdiente sich so seit der Trennung von ihrem Mann einen Teil der Miete.Das perfekt aufgetragene Make-up konnte weder die Blässe noch die Sorgenfalte an der Nasenwurzel kaschieren, die sich seit dem Unfall ihrer Tochter dort eingegraben hatten. Franziska, eine patente Siebzehnjährige, war letzten Montag von einem Führerscheinneuling angefahren worden und lag seither im Koma.
    Loretta Kiendel kam die letzten Stufen herunter und blieb vor ihnen stehen. Sie trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit Glitzerapplikation und Pantoletten mit fünf Zentimeter hohen Absätzen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Putztag war. Die blondgefärbten Locken hielt ein schwarzes Band aus dem Gesicht. »Ihr Vater wollte doch gestern Abend zurück sein. Aber in der Wohnung ist er nicht, und sein Auto steht nicht im Hof. Hat er sich vielleicht bei Ihnen gemeldet?«
    Albert schüttelte den Kopf. »Vielleicht war ihm der Wochenendverkehr zu viel. Sicher kommt er im Laufe des Vormittags, das hat er doch schon häufiger gemacht.«
    »Aber nicht, wenn er weiß, dass ich putze. Vielleicht ist ihm etwas passiert.« Auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten.
    »Bei einen Unfall hätte uns die Polizei verständigt«, erwiderte Albert.
    »Und wenn er im Haus gestürzt ist? Meine Schwiegermutter lag zwei Stunden mit gebrochenem Oberschenkelhals im Flur, bis jemand ihre Hilferufe gehört hat. Aber Ihren Vater kann ja niemand hören in diesem einsamen Haus im Wald.«
    Babs konnte sich ihren Schwiegervater nicht hilflos vorstellen. Er hielt immer alle Fäden in der Hand, und selbst wenn er unglücklich gestürzt wäre, hätte er sein Handy gezückt und einen Notarzt gerufen oder, in einem minder schweren Fall, Albert zu sich zitiert.
    »Mein Vater hat ein Mobiltelefon für solche Fälle«, sagte Albert. »Aber wenn es Sie beruhigt, rufe ich ihn an.«
    Loretta Kiendel sah Albert mit zusammengekniffenen Augen an. »Mich brauchen Sie nicht zu beruhigen. Er ist ja nicht mein Vater.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, blieb aber auf der untersten Stufe stehen. »Soll ich nun putzen oder nicht?«
    »Bitte,
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