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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren
Autoren: Héctor Tobar
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dieses Meer überquerten, und später dachte Araceli, die Zeit sei vorbeigeschwommen, weil sie so glatt und still und herrlich verging. Sie stellte sich vor, mit Felipe an ihrer Seite über dieses Wüstenmeer zu gleiten, bis sie nach Carolina del Norte kamen oder vielleicht gar nach Veracruz und an das richtige Meer, wo sie am Ende der Reise ihr Leben dann neu beginnen könnten.
    Jetzt wuchsen große Pflanzen rechts und links der Straße, die langen Sukkulentenarme des Ocotillo, dessen stachlige Zuckerstangenfinger sich nach der weißen Sonne reckten. Plötzlich waren es Dutzende, dann Hunderte, die einen ganzen Berghang bedeckten. Araceli wollte gerade etwas über die Schönheit der Kakteen sagen, als ein Pick-up genau wie ihrer neben sie glitt und die beiden Fahrzeuge lange genug auf gleicher Höhe fuhren, dass Araceli durchs offene Fenster das Gesicht des Fahrers betrachten konnte. Er war ein mexicano wie sie, aber vielleicht zehn Jahre älter, mit mehreren Sorgenfalten auf der Stirn und einer schlammigen Gesichtsfarbe, die an Michoacán oder Guerrero denken ließ oder an einen anderen Winkel ihres Landes, wo man Mais anbaute. Er sah mit abwesendem Blick auf die gerade Straße, als ob er sich an andere Fahrten auf anderen Highways erinnerte, und plötzlich wurde ihr klar, so wie dieser Mann könnte sie selbst werden, wenn sie in den USA blieb. Sie malte sich eine Biografie für ihn aus, eine Geschichte von Grenzüberquerungen, Ankünften, Geld und Enttäuschungen. Es gibt so viele von uns auf diesen Straßen. So viele von uns aus Adobe-Dörfern und gemauerten Häusern. Wir sind über diesen Highway verstreut, zwischen den Wohnmobilen und den Sportwagen, wir putzen und bauen, wir pflanzen und kochen, und wir suchen einen neuen Platz, die nächste Hoffnung.
    »Viele Leute gehen nach Arizona«, sagte Felipe. »Ich habe einen Cousin da. Er sagt, ganz egal, wo, man findet überall innerhalb eines Tages einen Job. In einer Stunde sind wir da. Die Grenze ist der Colorado River. Wenn wir über den Fluss fahren, sind wir in Arizona.«
    Araceli war noch in keinem anderen Bundesstaat als Kalifornien gewesen. Es heißt Vereinigte Staaten, weil es so viele sind, insgesamt fünfzig. Sie fragte sich, ob es wohl Grenzposten geben würde, einen richtigen Kontrollpunkt, wo Papiere verlangt wurden. Wenn ja, würde bemerkt werden, dass ihr die nötigen Stempel fehlten – sie hatte jetzt einen Pass, aber ohne Visum war der bloß eine weitere Erinnerung daran, dass sie Mexikanerin war. Der näher kommende Grenzfluss machte sie nervös, und schließlich kamen sie zu einem Ort namens Blythe, von wo aus es nach Aussage der Schilder bloß noch fünf Meilen bis Arizona waren.
    »Was passiert, wenn wir über die Grenze fahren?«, platzte es schließlich aus ihr heraus.
    »Was?«
    »In Arizona. Wollen sie da meine Papiere sehen?«
    »Nein. Man fährt einfach rüber.«
    »Da wird nichts kontrolliert?«
    »Nein. Bloß Lastwagen mit Obst und Gemüse.«
    Sie ratterten weiter den Highway entlang, auf eine Oase aus Baumkronen und grünen Büschen zu. Bald schon fuhren sie auf einer breiten Brücke und rollten auf die andere Seite. SIE VERLASSEN KALIFORNIEN, stand auf einem Schild, als sie den schlammigen Fluss unter sich hatten.
    »¡Adiós, California!« , schrie sie, die Arme in die Luft gereckt, als wäre es die letzte Sturzfahrt einer Achterbahn.
    »Bye-bye!«, fügte Felipe hinzu, und sie lachten zusammen.
    Auf der anderen Seite wurden sie von einem Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN ARIZONA begrüßt, dekoriert mit der Flagge des Bundesstaates, nahm sie an: rote und gelbe Strahlen, die aus einem blauen Feld aufstiegen, in der Mitte ein kupferfarbener Stern. Araceli bewunderte die abstrakte Ausdruckskraft und dachte: So sollten Flaggen aussehen.
    Sie fuhren an der Kontrollstelle für Lastwagen vorbei, die Felipe erwähnt hatte, und dann wieder bergauf, weg vom Fluss in eine felsige Umgebung. Das ist Arizona, diese roten Steine, schon sieht die Landschaft anders aus. Ich habe diese feuerroten Steine in Filmen gesehen und gedacht, das wäre in Kalifornien, aber da habe ich mich geirrt. Sie war an einem neuen, unbekannten Ort, und plötzlich lösten sich Tage und Wochen der Sorge und Furcht auf, sie lehnte den Kopf an die Beifahrertür und hatte das Gefühl, sie könnte jeden Augenblick einschlafen, in dieser friedlichen rostroten Gegend, wo ein Dutzend hoher Saguaros sie mit gereckten Armen begrüßten.
    Araceli sank in beruhigende
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