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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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Prolog
    D ies ist eine Geschichte über eine Familie, und da ein Geist darin vorkommt, könnte man sie als Geistergeschichte bezeichnen. Doch im Grunde ist das jede Familiengeschichte. Unsere Lieben sitzen bei uns, lange nachdem sie von uns gegangen sind.
     
     
    Diese spezielle Geschichte handelt von Charles »Chick« Benetto, aber er war nicht der Geist. Er war ausgesprochen lebendig. Ich entdeckte ihn eines Samstagmorgens auf der Zuschauertribüne eines Baseballfelds, auf dem die Little League trainierte. Er trug eine dunkelblaue Windjacke und kaute Pfefferminzkaugummi. Vielleicht haben Sie ihn noch in Erinnerung als Baseballspieler. Ich habe früher Sportreportagen geschrieben und immer wieder über ihn berichtet.
    Wenn ich heute zurückblicke, empfinde ich es als schicksalhaft, dass ich ihn damals dort entdeckte. Ich war nach Pepperville Beach gekommen, um ein kleines Haus zu verkaufen, das lange Jahre meiner Familie gehört hatte. Auf dem Rückweg zum Flughafen machte ich eine Kaffeepause. Auf der anderen Straßenseite trainierten Kinder in lila T-Shirts Baseball. Ich hatte noch Zeit und schlenderte zu dem Feld hinüber. Als ich am Backstop stand, die Finger am Maschendrahtzaun, kam ein alter Mann auf einem Rasenmäher vorbeigetuckert. Er hatte ein sonnenverbranntes faltiges Gesicht, und in seinem Mundwinkel hing eine halbe Zigarre. Als er mich sah, stellte er den Motor ab und fragte mich, ob eines meiner Kinder hier spiele. Ich verneinte, woraufhin er wissen wollte, was ich denn hier tat. Nachdem ich ihm von dem Haus berichtet hatte, fragte er, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente, und ich war ein bisschen leichtfertig und erzählte ihm auch das.
    »Soso, Sie schreiben«, sagte er und kaute an dem Stumpen. Dann wies er auf eine Gestalt, die mit dem Rücken zu uns allein auf der Zuschauertribüne saß. »Da sollten Sie mal mit dem Knaben dort reden. Der kann Ihnen’ne starke Geschichte erzählen.«
    So etwas bekomme ich ständig zu hören.
    »Ah ja? Und worüber?«
    »War mal Baseballprofi.«
    »Hm.«
    Der Mann zögerte.
    »Hat versucht, sich umzubringen.«
    »Im Ernst?«
    »Jawoll.« Der Mann schniefte. »Kann von Glück sagen, dass er noch am Leben ist, wie ich gehört hab. Chick Benetto heißt er. Seine Mutter hat früher hier in der Ecke gewohnt. Posey Benetto.« Er gluckste. »War’n wildes Mädchen.«
    Ich ließ den Zaun los. Der Maschendraht war rostig, und der Rost haftete nun an meinen Händen.
    »Hat, glaub ich, sogar mal bei den World Series gespielt. Ganz im Ernst. Fragen Sie ihn doch selbst. Er sitzt ohnehin die ganze Zeit allein da rum.«
    Er ließ den Zigarrenstummel fallen, trat ihn aus und stapfte zu seinem Rasenmäher zurück.
    Jede Familiengeschichte ist eine Geistergeschichte.
    Ich ging zur Tribüne hinüber.
     
     
    Was ich nun hier schildere, hat Charles »Chick« Benetto mir an jenem Morgen – und später – erzählt. Beigefügt habe ich einige Dokumente, private Mitteilungen und Auszüge aus einem Tagebuch, das ich später entdeckt habe. Ich erzähle aus seiner Perspektive, weil Sie mir vielleicht keinen Glauben schenken würden, wenn Sie diese Geschichte nicht mit seinen Worten hören würden.
    Sie glauben sie vielleicht sowieso nicht.
    Doch stellen Sie sich einmal folgende Frage: Haben Sie jemals einen geliebten Menschen verloren und sich inständig gewünscht, noch ein einziges Mal mit ihm sprechen zu können, um nachzuholen, was Sie versäumt haben, als Sie noch glaubten, er werde immer da sein? Falls ja, wissen Sie bestimmt, dass man sich an jedem weiteren Tag seines Lebens nach dieser Gelegenheit sehnen kann. Und wenn man sie nun plötzlich bekäme?

MITTERNACHT

Chicks Geschichte
    I ch habe schon so eine Ahnung. Es geht darum, weshalb ich mich umbringen wollte.
    Wie ich überlebt habe. Weshalb ich überhaupt verschwunden bin. Wo ich die ganze Zeit gesteckt habe. Aber zuallererst, weshalb ich mich umbringen wollte, nicht wahr?
    Kein Problem. Das wollen alle wissen. Jeder vergleicht sich unwillkürlich mit mir. Es ist, als glaubten die Leute, dass es irgendwo eine Grenzlinie gibt, und wenn man die niemals überschreitet, kommt man auch nie auf die Idee, von einem Hochhaus zu springen oder Schlaftabletten zu schlucken. Aber wenn man sie überschreitet, kann es passieren. Die Leute fragen sich dann: »Könnte ich auch in diese Lage kommen?«
    Aber es gibt diese Linie nicht. Nur das eigene Leben, das man vielleicht verpfuscht, und jemanden, der einen vielleicht
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