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Polaris

Polaris

Titel: Polaris
Autoren: Jack McDevitt
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Prolog
     
     
I.
     
    Es sah nicht mehr aus wie eine Sonne. Als sie vor ein paar Tagen angekommen waren, war Delta Karpis ein gewöhnlicher Stern der Klasse G gewesen, der ruhig und friedlich mit seiner Planetenfamilie durch die endlose Tiefe trieb, wie er es schon seit sechs Milliarden Jahren getan hatte. Nun jedoch war er eine Art missgestalteter Sack, der von einer unsichtbaren Hand durch die Nacht geschleift wurde. Seine Masse schien unter dem Druck der Gezeiten zusammengeschrumpft zu sein, und aus dem Flaschenhals auf der schmalen Seite des Sacks schoss ein Strom radioaktiven Gases hervor, der sich über Millionen von Kilometern zog und den angeschlagenen Stern mit einem glühenden Punkt in der Dunkelheit verknüpfte.
    Einem Punkt. Chek Boland betrachtete ihn lange Zeit und staunte, dass etwas, das so klein war, dass es im Grunde unsichtbar war, zerstörerisch genug sein konnte, eine Sonne buchstäblich zu verformen.
    »Bisher habt ihr noch gar nichts gesehen«, verkündeten die Astronomen auf den anderen Schiffen. »Es hat noch nicht einmal angefangen.«
    Boland richtete seine Aufmerksamkeit auf Klassner. »Noch neun Stunden, Marty«, sagte er. »Showtime.«
    Klassner saß auf seinem Lieblingsstuhl, dem graugrünen neben dem Beistelltisch, die Augen blicklos auf das Schott gerichtet. Nach einer Weile blinzelte er und drehte sich zu Boland um. »Ja«, erwiderte er. Und dann: »Showtime? Wofür?«
    »Die Kollision.«
    Klassner trug den verwirrten Gesichtsausdruck zur Schau, den sie in jüngster Zeit allzu oft zu sehen bekamen. »Werden wir mit etwas zusammenstoßen?«
    »Nein. Der Zwerg wird mit Delta Kay zusammenstoßen.«
    »Ja«, sagte er. »Das ist bemerkenswert. Ich bin froh, dass wir hergekommen sind.«
    Die Teleskope entlarvten den Punkt als mattrote Scheibe, die von einem schimmernden Ring aus Gas umgeben war. Es war ein weißer Zwerg, das nackte Herz eines kollabierten Sterns. Seine Elektronen waren aus den Kernen gerissen und zusammengepresst worden und hatten ein Objekt hervorgebracht, das nur noch einen Schritt von einem schwarzen Loch entfernt war. Vor einem Jahr war er in das Planetensystem eingedrungen, hatte Welten und Monde verstreut und sich nun zu dem Dolch entwickelt, der direkt auf das Herz von Delta Karpis selbst zielte.
    Klassner war während des letzten Abends bei Sinnen gewesen, und sie hatten über die menschliche Tendenz diskutiert, Persönlichkeitsmerkmale auf leblose Objekte zu projizieren: Loyalität gegenüber einem Schiff zu entwickeln, zu glauben, das Haus, in dem man seine Kindheit verbracht hat, würde einen stets willkommen heißen – so etwas halt. Nun konnten sie sich eines Gefühls der Trauer nicht erwehren, während sie den Todeskampf eines Sterns beobachteten, als wäre er lebendig und wisse irgendwie, was mit ihm geschah.
    Nancy White hatte sich ebenfalls an diesem Gespräch beteiligt. Nancy hatte sich auf die gemeinverständliche Darstellung wissenschaftlicher Themen spezialisiert und produzierte eine Sendung, die von Millionen verfolgt wurde. Sie hatte erklärt, das sei Unsinn und sie könne sich nicht dazu überwinden, sich dieser speziellen Fantasie zu ergeben, während auf der dritten Welt, der Heimat großer Tiere, lebendiger Ozeane und ausgedehnter Wälder, eine echte Katastrophe stattfand. Aus einem verdrießlichen Impuls heraus hatten sie die Welt Kissoff genannt. Kissoff hatte den allgemeinen Tumult bisher überstanden, den der Eindringling innerhalb des Systems entfacht hatte. Sein Orbit hatte sich verzerrt, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ihm und seiner Biosphäre bevorstand. Binnen der nächsten paar Stunden würden seine Ozeane verdampfen und die Atmosphäre fortgerissen werden.
    Der fortschreitenden Zerstörung von Martin Klassner zuzusehen, war ebenso schmerzhaft, nur auf andere Weise. Klassner hatte nach Tausenden von Jahren voller Spekulationen bewiesen, dass alternative Universen existierten, ein wissenschaftlicher Durchbruch, den jedermann für unmöglich gehalten hatte. Sie sind da draußen, und Klassner hatte vorausgesagt, dass es eines Tages möglich sein würde, sie aufzusuchen. Nun wurden sie Klassner-Universen genannt.
    Im letzten Jahr war er am Bentwood-Syndrom erkrankt, das gelegentliche Wahnvorstellungen und anfallartigen Gedächtnisverlust mit sich brachte. Seine langen, schmalen Hände zitterten unentwegt. Diese Krankheit war unheilbar, und es gab berechtigte Zweifel daran, dass er dieses Jahr noch überleben würde. Die
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