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Das Teehaus im Grünen

Das Teehaus im Grünen

Titel: Das Teehaus im Grünen
Autoren: Mary Scott
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    Lucy Every war niedergeschlagen. Es war ein trüber Tag, und die Straßen der großen Stadt sahen grau und langweilig aus. Die meisten Leute bieten einen höchst unerfreulichen Anblick, dachte sie. Bis auf dieses Mädchen da. Die ist reizend. Sie erinnert mich an...
    Dann blieb sie so plötzlich stehen, daß der Mann hinter ihr auf sie prallte. Er entschuldigte sich brummend. Lucy hörte ihn gar nicht. Sie hielt die Hände des hübschen Mädchens fest. »Vicky! Wie ist das möglich? ... Oh, Vicky!« rief sie, fast zu stürmisch für sie, die sie sonst eine sehr ruhige und beherrschte junge Frau war.
    Vickys große schöne Augen strahlten; sie hatte sich nicht verändert. Sie war so bezaubernd wie eh und je. Es war zu schön, daß sie wieder in Neuseeland war. »Ach, Lucy!« rief sie fröhlich. »Seit ewigen Zeiten...«
    Aber ihre Freundin erwiderte streng: »Genau vor zwei Jahren bist du fortgefahren, und in den letzten drei Monaten hast du nur Postkarten geschrieben. Weshalb bist du eigentlich nicht mehr in Melbourne?«
    »Ach, das war eine schreckliche Zeit. Ich hatte es einfach satt. Das war auch der Grund, weshalb ich nicht mehr geschrieben habe. Es gab überhaupt nichts Nettes zu berichten.«
    »Seit wann bist du zurück?«
    »Seit zehn Tagen.«
    »Du bist seit zehn Tagen hier und hast mich noch nicht einmal angerufen?«
    Lucy war empört, aber dann bemerkte sie, daß Vickys Kleid ziemlich abgetragen war, daß ihre Schuhe alt und ihre Stoff-Handschuhe durchgescheuert waren. Dabei hatte Vicky für schöne Kleider immer sehr viel übrig gehabt! »Ich bin auf dem Heimweg«, fuhr sie fort. »Komm, setzen wir uns noch ein bißchen in diese Teestube!«
    Sie nahmen an einem Tisch in einer ruhigen Ecke Platz. Dann begann Lucy Vicky auszufragen, mit einer Offenheit, die sich aus ihrer Schulfreundschaft und dem noch innigeren Verhältnis der folgenden zwei Jahre ergab.
    »Jetzt erzähl mir alles. Warum hast du mich nicht gleich nach deiner Ankunft angerufen?«
    Vicky machte große und ungeheuer treuherzige Augen. Aber Lucy kannte diesen Blick, und als Vicky begann: »Na ja, genau gesagt...«, schnitt sie ihr das Wort ab. »Hör auf damit! Mit >genau gesagt< hast du immer angefangen zu lügen. Ich sehe, du hast dich nicht verändert. Ich will die Wahrheit wissen.«
    Vicky lachte ungeniert. »Lügen! Was für ein häßliches Wort! Ich erzähle keine richtigen Lügen. Nur kleine, harmlose Ausflüchte.«
    Das war die schwache Seite dieses reizenden Mädchens. Ihr übermäßig weiches Herz machte sie unfähig, die Gefühle anderer Menschen zu verletzen. Hinzu kam ihre unglückselige Neigung zur Romantik. Lucy hatte das schon durchschaut, als sie erst vierzehn waren, und offensichtlich hatte sich in den verflossenen acht Jahren nichts geändert. »Also bitte: Keine Geständnisse, die mit >genau gesagt< beginnen.« Lucy seufzte. Sie war ein nüchterner Mensch, und Vickys zartbesaitetes Gemüt machte die Sache manchmal schwierig. Wenn die Wahrheit unangenehm war, mußte man sie ihr geradezu abringen. Damit begann Lucy nun.
    Nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte, ermunterte sie Vicky: »Jetzt fang am Anfang an. Warum hattest du Melbourne satt? In deinen Briefen hast du nichts davon berichtet.«
    »Ich wollte nicht klagen.«
    Lucys Ausdruck gab zu verstehen: Wann haben wir jemals etwas voreinander verborgen? Aber laut fragte sie bloß: »Hattest du denn Streit mit deiner Tante und deinem Onkel?«
    »Sie konnten mich nicht leiden. Sie waren so entsetzlich trocken, Lucy. Sie hatten nicht das geringste Verständnis für mich und besaßen keinen Funken Humor. Sie hatten eine schreckliche Art, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, schon in den frühen Morgenstunden. Du weißt, wie fad solche Leute sind.«
    »Jedenfalls hat das nicht zu dir gepaßt.«
    »Es waren lächerliche Kleinigkeiten. Zum Beispiel: >Wer hat den wertvollen Strauch abgebrochen?< Nun, ich hatte natürlich gesehen, wie der Zeitungsjunge ihn abgeknickt hatte, aber warum sollte ich ihn in Ungelegenheiten bringen? Also erklärte ich, es müßte wohl ein streunender Hund gewesen sein. Doch am nächsten Tag kam die Nachbarin und sagte, der Zeitungsjunge wär’s gewesen, und ich hätte ihn beobachtet. Dann waren da zwei reife Pfirsiche — weshalb sollte ich das kleine Mädchen anschwärzen, die sie geklaut hatte? Sie hatte solchen Appetit darauf gehabt! Natürlich sagte ich, ich hätte gesehen, wie die Vögel sie gefressen hätten. Ich konnte doch nicht ahnen, daß
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