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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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bewusst, dass er nicht so toll ist, wie man gedacht hatte.
    Und er bewahrt einen vor gar nichts.
    Was mir schließlich den Rest gab, war, so komisch sich das auch anhören mag, die Hochzeit meiner Tochter. Meine Tochter war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, hatte dieselben langen kastanienbraunen Haare wie ihre Mutter und dieselben schön geformten Lippen. Sie heiratete »einen wunderbaren Mann«.
    Und das erfuhr ich lediglich aus einem kurzen Brief, den ich Wochen nach der Hochzeit in der Post fand.
    Offenbar war ich wegen meiner Trunksucht, meiner Schwermut und meines schlechten Benehmens eine Zumutung geworden, die man nicht mehr zu einer Familienfeier einlud. Ich bekam nur einen Brief und zwei Fotos. Auf dem einen Foto war meine Tochter mit ihrem Bräutigam zu sehen, wie sie Hand in Hand unter einem Baum standen – auf dem anderen erhoben sie ihr Sektglas.
    Dieses zweite Foto machte mich völlig fertig. Es war einer dieser Schnappschüsse von einem Augenblick, den es nie wieder geben wird: die beiden lachend mit ihren Gläsern. Die beiden wirkten so jung und natürlich... und dieser Moment war schon so lange Vergangenheit. Das Foto strahlte einen Vorwurf aus. Und du warst nicht da . Ich kannte diesen Typen nicht mal. Meine Exfrau kannte ihn. Unsere Freunde von früher kannten ihn. Und du warst nicht da . Wieder einmal hatte ich bei einem wichtigen Ereignis in meiner Familie gefehlt. Und diesmal würde meine Kleine nicht meine Hand nehmen, um mich zu trösten; sie gehörte jetzt einem anderen. Mich hatte niemand gefragt; ich wurde lediglich benachrichtigt.
    Ich betrachtete den Umschlag, auf dem ihr neuer Name stand ( Maria Lang , nicht mehr Maria Benetto ), keine Adresse (Wieso? Fürchteten die beiden, ich könnte sie besuchen?), und etwas in mir ging für immer verloren. Wenn man aus dem Leben seines Kindes ausgeschlossen wird, kommt es einem vor, als würde eine Stahltür verriegelt; man kann klopfen und schreien, so viel man will, niemand wird einen hören. Und wenn man nicht mehr gehört wird, gibt man auf, und wenn man aufgibt, kann man sich auch selbst vernichten.
    Das habe ich versucht.
    Die Frage ist dann nicht: Weshalb?, sondern eher: Weshalb nicht?
    Als er zurückgetrottet kam zu Gott, die Lieder unvollendet, die Arbeit nicht vollbracht, wer weiß, welch Pfade müde er beschritt, welch Berge des Friedens oder Leids er erklomm?
     
     
    Ich hoffe, Gott nahm seine Hand und lächelte und sagte: »Armer Drückeberger, leichtfert’ger Tor! Das Buch des Lebens ist schwer zu verstehn; hättest in der Schule du ausgeharrt!«
     
     
    Gedicht von Charles Hanson Towne,
entdeckt in einem Notizbuch
von Chick Benetto

Chick will Schluss machen
    D ieser Brief von meiner Tochter traf an einem Freitag ein, was praktisch war, weil ich mir am Wochenende so übel die Kante geben konnte, dass ich kaum mehr eine Erinnerung daran habe. Am Montagmorgen kam ich trotz einer ausgedehnten kalten Dusche zwei Stunden zu spät zur Arbeit. Im Büro hielt ich es gerade mal eine Dreiviertelstunde aus. Mir dröhnte der Schädel, und der Raum kam mir vor wie ein Mausoleum. Ich verdrückte mich in den Kopierraum, von dort aufs Klo und schließlich in den Fahrstuhl, ohne Mantel und Aktentasche, sodass niemand auf die Idee kommen konnte, ich würde flüchten.
    Was dämlich war, denn es fiel überhaupt keinem auf. Ich arbeitete in einer großen Firma mit vielen Vertretern, und man kam dort prächtig ohne mich aus, wie wir nun wissen, denn der Gang vom Fahrstuhl zum Parkplatz war meine letzte Tätigkeit als Angestellter.
     
     
    Danach rief ich von einem öffentlichen Fernsprecher meine Exfrau an. Sie war bei der Arbeit.
    »Warum?«, sagte ich, als sie abnahm.
    »Chick?«
    »Warum?«, wiederholte ich. Ich hatte drei Tage vor Wut gekocht, und das war nun alles, was ich äußern konnte. Ein einziges Wort. »Warum?«
    »Chick.« Ihre Stimme wurde weicher.
    »Ich bin nicht mal eingeladen worden.«
    »Das war ihre Idee. Sie dachten, es wäre...«
    »Was? Risikoloser? Dachten sie, ich würde irgendwie durchdrehen?«
    »Ich weiß nicht -«
    »Gelte ich jetzt als Monster? Ist es das?«
    »Wo bist du?«
    »Bin ich ein Monster?«
    »Hör auf damit.«
    »Ich gehe weg.«
    »Hör zu, Chick, sie ist eben kein Kind mehr, und wenn -«
    »Und du konntest dich nicht für mich einsetzen?«
    Ich hörte sie seufzen.
    »Wohin gehst du?«, fragte sie.
    »Du konntest dich nicht für mich einsetzen?«
    »Tut mir leid. Es ist kompliziert. Seine Familie musste auch
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