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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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rettet.
    Oder eben auch nicht.
     
     
    Wenn ich zurückschaue, begann mein Niedergang mit dem Tod meiner Mutter, vor etwa zehn Jahren. Ich war nicht bei ihr, als sie starb. Deshalb habe ich mir eine Lüge einfallen lassen, was keine gute Idee war. Bei einem Begräbnis kann man schlecht Geheimnisse bewahren. Ich stand an ihrem Grab und versuchte mir einzureden, dass es nicht meine Schuld war, und als meine vierzehnjährige Tochter meine Hand nahm und flüsterte: »Tut mir leid, Papa, dass du nicht mehr Abschied nehmen konntest«, brach ich völlig zusammen und fiel schluchzend auf die Knie.
    Nach dem Begräbnis habe ich mich so besoffen, dass ich auf unserer Couch einschlief. Und etwas veränderte sich grundlegend. Ein einziger Tag kann das Leben komplett verändern. An diesem Tag wendete sich mein Leben unweigerlich zum Schlechten. Meine Mutter hatte mich als Kind kaum aus den Augen gelassen – sie gab Ratschläge, übte Kritik, diese ganze erdrückende Mutterliebe eben. Ich wünschte mir nicht nur ein Mal, dass sie mich in Ruhe lassen würde.
    Und dann tat sie es. Sie starb. Keine Besuche mehr, keine Anrufe. Und ohne es überhaupt zu merken, verlor ich den Halt, wie eine entwurzelte Pflanze, die einen Fluss hinuntertreibt. Mütter hegen gerne bestimmte Vorstellungen von ihren Kindern, und ich selbst hatte die Vorstellung, dass ich mich gerne mochte, weil meine Mutter es tat. Als sie starb, war es aus und vorbei mit dieser Illusion.
    Ich merkte, dass ich mich eigentlich nicht ausstehen konnte. Im Geiste sah ich mich immer noch als vielversprechenden jungen Profisportler. Doch ich war längst nicht mehr jung und auch kein Sportler mehr, sondern in den mittleren Jahren und Vertreter. Und vielversprechend war gar nichts mehr an mir.
    Ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter beging ich finanziell die größte Dummheit meines Lebens. Ich ließ mich von einer Vertreterin in einen Investmentbetrug hineinziehen. Die Vertreterin war eine junge, temperamentvolle Frau, die Selbstbewusstsein ausstrahlte und genau so viel Einblick in ihre Bluse gewährte, dass ein älterer Mann verbittert ist, wenn sie an ihm vorübergeht – es sei denn, sie spricht mit ihm. Und dann benimmt er sich dämlich. Wir trafen uns drei Mal, um ihr Angebot zu erörtern: zwei Mal in ihrem Büro und ein Mal in einem griechischen Restaurant. Es passierte nichts Unziemliches, aber als ihr Parfum mir nicht mehr die Sinne vernebelte, hatte ich einen Großteil meiner Ersparnisse in Aktien angelegt, die rasch ihren Wert verloren. Die Vertreterin wurde an die Westküste »versetzt«. Und ich musste meiner Frau Catherine erklären, wo unser Geld geblieben war.
    Danach trank ich immer mehr; Baseballspieler tranken damals meist viel, aber bei mir lief es aus dem Ruder, weshalb ich nacheinander zwei Stellen verlor. Weil ich gefeuert wurde, trank ich noch mehr. Ich schlief schlecht. Ich ernährte mich schlecht. Ich schien stündlich zu altern. Wenn ich mal wieder Arbeit hatte, trug ich Mundspülung und Augentropfen mit mir herum und präparierte mich vor jedem Kundengespräch auf der Toilette. Geld wurde zum Problem, und Catherine und ich hatten fortwährend Streit. Im Lauf der Zeit ging meine Ehe in die Brüche. Catherine hatte genug von meinem Elend, was ich sogar verstehen kann. Wenn man sich selbst mies fühlt, benimmt man sich auch anderen gegenüber mies, sogar wenn man sie liebt. Eines Abends fand sie mich ohnmächtig im Keller. Meine Lippe blutete, und ich hielt einen Baseballhandschuh im Arm.
    Kurz darauf verließ ich meine Familie – oder vielmehr sie mich.
    Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich deshalb schäme.
    Ich nahm mir eine Wohnung und wurde zum unnahbaren Einzelgänger, hielt mich fern von jedem, der nicht mit mir trinken wollte. Meine Mutter wäre bestimmt zu mir durchgedrungen, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Das konnte sie immer schon gut. Sie nahm mich dann am Arm und sagte: »Na, komm schon, Charley, was ist los?« Aber sie war eben nicht mehr da. So ist das, wenn die Eltern sterben: Man muss jeden Kampf allein austragen, ohne Rückendeckung.
    Und eines Abends Anfang Oktober beschloss ich, mich umzubringen.
    Das klingt vielleicht überraschend. Man würde vielleicht annehmen, dass Männer wie ich, die bei den Meisterschaftsspielen, den World Series, gespielt haben, niemals Selbstmord begehen würden, weil sie ja ihren Lebenstraum verwirklicht haben. Aber das ist ein Irrtum. Wenn man den Traum verwirklicht hat, wird einem lediglich
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