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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren
Autoren: Héctor Tobar
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sagte Ruthy. »Aber hin und wieder geschehen eben doch so kleine Wunder. Ich schätze, darum habe ich noch nicht hingeschmissen.«
    »¿Se acabó todo?« , fragte Araceli. Sie standen allein vorm Gerichtssaal, und sie war immer noch verwirrt. Eben hatte sie noch die Fesseln des amerikanischen Justizsystems auf der Haut gespürt, und jetzt konnte sie schon als freier Mensch das Gericht verlassen und den Kontinent bereisen. Der Richter hatte entschieden, dass der Staat sich geirrt hatte. Aber durfte ein Richter das?
    »Ja, es ist vorbei«, sagte Ruthy. »Die Klage ist abgewiesen. Es gibt keinerlei Vorwürfe mehr gegen Sie. Wie der Richter gesagt hat, Sie sind frei, Sie können gehen, wohin Sie wollen. Se puede ir. Und Sie sollten auch tatsächlich gehen und nicht mehr hier herumhängen. Denn die Staatsanwaltschaft dreht anscheinend total durch. Der Staatsanwalt wollte, dass der Richter Sie an die Einwanderungspolizei übergibt, und das ist absolut inakzeptabel. Es ist ziemlich erstaunlich, einen Anklagevertreter so etwas öffentlich im Gerichtssaal sagen zu hören. Haben Sie gesehen, wie wütend der Richter geworden ist? Also, fahren Sie am besten gar nicht erst zurück zu der Adresse in Santa Ana. Da wird man als Erstes nach Ihnen suchen – wahrscheinlich ruft der Staatsanwalt jetzt gerade schon bei den Leuten vom ICE an.«
    »Vielen, vielen Dank für alles«, sagte Araceli und legte Ruthy beide Hände auf die Schultern, als wollte sie ihr Halt geben. Sie gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange, wie in Mexiko City üblich, und als Araceli allein den Flur entlang zum Ausgang strebte, drehte sie sich ein letztes Mal um und warf einen Blick auf Ruthys runde Silhouette mit der Hand, die oben auf dem Baumwollhügel ihres Bauches ruhte. Dann schritt sie zügig zum Parkplatz, um Felipe die guten Nachrichten zu überbringen und zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Direkt vor den Glastüren des Gerichtsgebäudes, hinter dem mit Nylonkordeln abgegrenzten Stück Beton, auf dem keine Fotografen mehr standen, kam sie an Janet Bryson vorbei, die jetzt allein mit einem aufgerollten Plakat dort stand, das sie nur ganz kurz auf den Treppenstufen gezeigt hatte.
    »Sie lassen sie laufen?«, fragte Janet Bryson, die wenige Sekunden zuvor vom enteilenden Staatsanwalt die Neuigkeit erfahren hatte. »Wo sind die Medien? Wo ist der Aufschrei der Empörung?«
    Als Nächstes passierte Araceli Giovanni Lozano, der das Poster mit ihrem Konterfei kopfüber aus der Hand hängen ließ. »Sie lassen dich laufen?«
    »Sí« , sagte Araceli atemlos. »¡Me voy!« Sie ging, so schnell sie konnte, ohne in einen Laufschritt zu verfallen, und die Erinnerung an den erfolglosen Sprint gegen die Polizei von Huntington Park brannte in ihren Beinmuskeln und verursachte ein panisches Pochen in ihrer Brust. Nicht laufen, denn das bringt nur Ärger, aber beweg dich schnell, mujer , denn sie können dich jeden Moment schnappen. Die Agenten des ICE würden entweder steife waldgrüne Uniformen oder marineblaue Blousons tragen, und Araceli suchte rasch den Weg und den Parkplatz nach ihnen ab. Gestern war ihnen ein Mann vom Gerichtsgebäude nach Hause gefolgt, in einem langsam fahrenden Auto – vielleicht war der von der Grenzpolizei gewesen. Als sie sich jetzt umdrehte, sah sie einen dunklen Mann mittleren Alters im Anzug, der mit langen Schritten auf sie zueilte – war das möglich? Ja, es war tatsächlich der mexikanische Konsul. »¡Araceli!« , rief er. »¡Ramírez!« Sie wollte gerade losrennen, als sie schon seine entschiedene Hand auf der Schulter spürte und ihren vollen Namen im Hauptstadtakzent ausgesprochen hörte: »¡Araceli Noemi Ramirez Hinojosa!«
    Er legte ihr den Arm ganz um die Schultern und führte sie zurück auf die Plaza, wo eine Gruppe von Anzugträgern sie erwartete.
    »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen«, sagte der Diplomat, und Araceli hörte die versteckte Prise Ironie heraus, mit der mexikanische Bürokraten oft ihre Proklamationen würzen. »Und was noch wichtiger ist, wir haben etwas für Sie.«
    Einer seiner Assistenten zog einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn dem Konsul, während ein anderer zurücktrat und eine Kamera zückte.
    »Einige Menschen aus Santa Ana sind mit einer Bitte an uns herangetreten«, sagte der Konsul. »Sie haben uns eine Kontonummer mitgeteilt. Und unter der sehr freundlichen Mithilfe und dank der Unterschrift Ihres ehemaligen patrón , el señor Torres, konnten wir das Geld von Ihrem
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