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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren
Autoren: Héctor Tobar
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Dunkelheit und träumte zum ersten Mal von Brandon und Keenan. Sie führte sie an der Hand durch die roten Felsen Arizonas, weg von einem Wasserbecken. Dann schien ihr die Sonne direkt ins Gesicht, und ihr Traum wurde gelb, und dieser goldene Traum löschte die Erinnerungen vieler Jahre aus, an Highwayfahrten, an Grenzüberquerungen, an Abschiede und Begrüßungen.
    Sie erwachte mit dem Geschmack feuchter Luft auf den Lippen, sah sich um und stellte fest, dass sie immer noch in der Wüste waren. Der Wald aus Saguaros war dichter geworden, und vor ihnen lag eine Wand wogender Gewitterwolken, deren weiße Kuppen und dunkelgraue Bäuche majestätisch wie Kathedralen über den Horizont ragten. Einen Augenblick hielt Araceli die Wolken für eine Sinnestäuschung oder eine Verlängerung ihres Traums, denn als sie vorhin den Fluss überquert hatten, war der Himmel noch leer und blau gewesen.
    »Guck dir diese Wolken an«, sagte sie.
    »Es un Monsun « , sagte Felipe. »Im Sommer sieht man so was in der Wüste schon mal. Sieht aus, als würden wir direkt hineinfahren.«
    Die Luft kühlte sich ab, wurde dichter, und bald verschwand die Sonne hinter der Wolkenwand, sandte nur noch einzelne Strahlen durch die blauen Löcher darin. Araceli erinnerte der Anblick an die Arizona-Flagge, die sie an der Grenze gesehen hatte, die gelben Streifen, die vom Stern ausgingen. Wieder schmeckte sie die feuchte Luft und begriff, dieses Unwetter kam aus dem Süden, tief aus dem tropischen Herzen der Erde, aus Mexiko oder sonst einem feuchten und bedürftigen Land.
    Bald waren sie unter der Wolkenbank, und es fing an zu regnen. Zuerst nur ein paar Tropfen, jeder klatschte groß und schwer auf die Windschutzscheibe, dann in dichten Schwaden, die in strudelnden Strömen die ganze Straße überschwemmten, sodass Felipe am Rand halten und auf das Ende des Regens warten musste. Araceli öffnete das Fenster und ließ sich das warme Wasser aufs Gesicht fallen – sie konnte sich nicht erinnern, je stärkeren Regen erlebt zu haben, ein Wolkenbruch, der den ganzen Wüstenstaub wegwusch und in Matsch verwandelte.
    Sie wandte sich zu Felipe und sah, auch sein Gesicht war nass, und da lehnte sie sich hinüber und küsste ihn. Ihre feuchten Lippen trafen sich. Dann noch einmal. Und noch einmal, bis sie aufhörten und sich ansahen und Araceli sich plötzlich leichter und jünger fühlte, und dann küsste sie ihn wieder, und ihre Arme und Hände umfassten einander, bis Araceli ihn sanft wegschob und sagte: »Langsam.«
    Der Regen hörte auf, und das Platschen der vorbeirauschenden Autos holte sie in die Gegenwart zurück – sie standen am Fahrbahnrand in Arizona und waren auf der Flucht.
    »Wir müssen weiterfahren«, sagte sie.
    Sie kehrten auf die Straße zurück, und nach wenigen Minuten erreichten sie eine Großstadt: Phoenix mit seinen niedrigen Lagerhäusern; Viertel mit felsigen Vorgärten und Kaktusanlagen. Die Sonne kam wieder heraus, die Wolken verzogen sich, der Highway wurde breiter, aus zwei Fahrbahnen Richtung Osten wurden drei, bis sie ins Stadtzentrum kamen, wo die Glastürme in der wiederkehrenden Hitze flimmerten. Der Highway verschwand unter Bodenniveau und verzweigte sich weiter, in vier, dann fünf Spuren. Mehrere grün-weiße Rechtecke hingen an den Überführungen, mit eigenartig nummerierten Highways und neuen Zielen. 17 – Flagstaff. 225 – TUCSON .
    »Jetzt müssen wir uns entscheiden«, sagte Felipe. »In welche Richtung fahren wir? Nach Flagstaff, wenn wir in den Vereinigten Staaten bleiben wollen. Nach Tucson, wenn wir nach Mexiko wollen.«
    Araceli schaute zu den Schildern hoch und dachte: Ja, es ist tatsächlich meine Entscheidung.
    Sie hob die Hand, streckte sie bis fast zur Windschutzscheibe und deutete mit dem Zeigefinger.
    »Para allá« , rief sie über das Brausen von Wind und Motoren, und dann sagte sie es noch einmal auf Englisch, einfach nur, weil sie es konnte.
    »Da lang.«
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