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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz
Autoren: Timo Leibig
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Prolog
    Dichtes Blattwerk verbarg den Mönch vor neugierigen Blicken.
    Mit seinem erdbraunen Überwurf und dem moosgrünen Untergewand war er hinter den gefleckten Blättern nicht zu erkennen. Auf einem geschotterten Weg, nur wenige Meter entfernt, schlenderten Menschen nichtsahnend an ihm vorbei, während die Sonnenstrahlen, die schräg durch das herbstliche Blätterdach fielen, bizarre Muster auf den Boden zeichneten. Unschuldige Kinder spielten auf der Wiese des großen Tiergartens Fangen. Ihre Eltern genossen die letzten Tage des lauen Herbstes und ließen sich von der Sonne kitzeln.
    Doch all diese belanglosen Menschlichkeiten interessierten den Klosterbruder nicht, der seine Pupillen ohne Hast von den Leuten abwandte und zielstrebig gen azurblauen Himmel wandern ließ. Kein einziges Wölkchen war zu sehen. Der Mann schloss seine Augen.
    Minuten vergingen.
    Hunde bellten, das neckende Lachen eines jugendlichen Liebespaares drang zu ihm hindurch und für einen kurzen Moment hing der intensive Geruch nach Currywurst und frischem Fritierfett in der Luft. Die Sonne fühlte sich warm auf seiner Haut an.
    Als der erste Windhauch die schlaffen Blätter wispern ließ öffnete der Mann seine Lider wieder und starrte erneut in den Himmel.
    Wieder vergingen Minuten.
    Reglos und schweigend beobachtete er im Schutz der Bäume und Büsche den Berliner Himmel. Nach einer schier endlosen Ewigkeit entdeckte er sie, die erste winzige Kumuluswolke, ein weißer Wattebausch am Firmament. Er musste lächeln. Zärtlich berührte er nun mit der Linken die raue Rinde einer Buche, die sich hinter ihm in die Lüfte streckte. Die Patina war warm, als pulsiere Leben hindurch. Leise intonierte er Worte, Worte in einer uralten Sprache, die niemand mehr kannte. Andächtig hob er seinen rechten Arm und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf das kleine, einsame Wölkchen. Langsam begann sein Finger zu kreisen. Erst unmerklich, dann mit immer größer werdenden Bahnen. Einer Spirale folgend wurde der Weg immer länger bis der Mann anfing, das Handgelenk mitkreisen zu lassen. Sein Blick war starr in den Himmel gerichtet, an dem sich mittlerweile mehrere weiße Fetzen sammelten. Sie vereinigten sich, wurden mächtiger, wuchsen an, wurden zu ersten Wolken. Leichter Wind kam auf und ließ die Blätter um ihn herum erneut unheilvoll rascheln. Der entfernte Horizont verfärbte sich in ein milchiges Weiß. Erste graue Sprenkel erschienen darin.
    Mittlerweile kreiste sein Arm aus dem Ellbogen heraus und die Spiralbahn wuchs unaufhaltsam an. Eine Windböe streifte durch die Äste, ließ sie sachte auf und ab wogen, und brachte den hauchzarten Duft nach Regen und Blei mit sich. Wenige Sekunden später folgte die zweite - merklich stärker - und intensivierte den Geruch des nahenden Sturms. Als die dritte Böe die Äste wanken ließ, kauerte sich die Sonne hinter die sich auftürmenden Wolkenburgen. Damit erlosch die Wärme auf seiner Haut. Die Welt wurde schlagartig in dumpfes Grau getaucht. Es wurde diesig, fast neblig anmutend nach dem flirrenden, blendenden Sonnenschein.
    Der Mann kreiste mittlerweile aus der Schulter heraus und begann bereits mit dem Oberkörper die Kreise zu vergrößern. Der Radius wurde immer weiter. Sein Blick war immer noch starr in den Himmel auf die graue Wolkenmasse gerichtet, die immer dunkler wurde als tröpfle ein Maler langsam aber beständig Schwarz hinzu. Vom Blau der Atmosphäre war schon lange nichts mehr zu sehen; die Wolkendecke vollkommen geschlossen. Als er den größtmöglichen Durchmesser erreicht hatte, hielt er plötzlich in der Bewegung inne. Wie erstarrt, einer Momentaufnahme einer Kamera gleich. Er schloss die Augen und mit ihnen verstummten die gemurmelten Worte. Der Wind peitschte ihm die spärlichen, grauen Haare ums Gesicht.
    Ein Herzschlag verging.
    Andächtig nahm der Mann seine Linke vom Stamm des Baumes und öffnete wieder die Augen, die wussten, was sie erwartete: ein bleifarbener Wolkenhimmel, mehr Schiefer als Grau, dessen unterer, wogender Rand bereits die Spitzen der höchsten Häuser Berlins streifte. Die Luft strotzte vor Feuchtigkeit und hinterließ beim Atmen einen ungesunden Geschmack von saurem Regen auf seiner Zunge. Schweiß stand ihm auf der Stirn.
    Für einen letzten Moment genoss der Mann in den waldfarbenen Roben die Ruhe vor dem Sturm. Dann riss er beide Arme in die Höhe. Er ballte die Hände zu Fäusten, als wolle er sich mit letzter Kraft vor einem tödlichen Sturz in den
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