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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren
Autoren: Héctor Tobar
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dazwischen, »möchte ich Sie auf den ungeklärten Einwanderungsstatus der Angeklagten aufmerksam machen.«
    »Wie bitte?«, gab der Richter in scharfem Ton zurück. Er beugte sich vor und funkelte den Staatsanwalt erbost an.
    »Einspruch«, rief Ruth und sprang auf.
    Der Richter bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. Dann sank er in den Sessel mit der hohen Polsterlehne zurück und faltete die Hände vorm Gesicht wie zum Gebet. »Herr Staatsanwalt«, sagte er, »darauf habe ich zwei Antworten. Zunächst einmal habe ich eine lange Liste von Verfahren abzuarbeiten. Leider habe ich keine Stunde, nicht einmal fünfzehn Minuten Zeit übrig, um mit Ihnen über Sachverhalte zu debattieren, die mit diesem Verfahren nichts zu tun haben. Und zweitens, was noch viel wichtiger ist: Sehen Sie das große Bronzewappen hinter meinem Kopf?«
    »Ja, Euer Ehren.«
    »Sie sehen die San Francisco Bay und eine Dame mit Speer, und darunter steht ›Kalifornien‹. Stehen im Gesetzbuch dieses Staates irgendwelche Einwanderungsgesetze, auf die Sie sich berufen könnten?«
    »Nein, Euer Ehren.«
    »Die Verhandlung ist geschlossen«, sagte der Richter. »Ms Ramirez, Sie können gehen.« Er klopfte zweimal mit dem Hammer auf den Tisch, ein merkwürdiges Klick-Klack, bevor er sich erhob und mit seinem leeren Kaffeebecher, den er für die nächste Verhandlung nachzufüllen plante, ins Hinterzimmer ging.
    Zu fünft stiegen sie die verwitterte Granittreppe zum Haus hinauf. Maureen hielt Samantha, die vor jeder Stufe das Bein so hoch wie möglich hob, an der Hand, während Brandon, Keenan und Scott in einigem Abstand folgten. Maureen blieb stehen, um einen sehnsüchtigen Blick zur Fassade hinaufzuwerfen, die im Präriestil gehalten war. Die Fenster, jeweils neun Glasrechtecke mit hölzernen Stegen, waren Frank Lloyd Wright nachempfunden. Sie waren original erhalten und genuin amerikanisch, so wie die glatten Steinsäulen der Veranda und die glänzenden Parkettböden im Wohnzimmer. Als sie eintraten, wurden die Torres-Thompsons von ihrem braun gerahmten Spiegelbild begrüßt.
    »Hübsch«, sagte Scott.
    Von allen Häusern im traditionellen Craftsman-Stil, die sie bislang im südlichen Pasadena besichtigt hatten, war dies das mit Abstand schönste. Es war nicht ganz so groß wie die anderen, aber in besserem Sanierungszustand. Maureen war ganz hingerissen von den dreieckigen Dachtraufen und den mächtigen Deckenbalken, die aus dem Wohnzimmer hinaus bis über die Veranda ragten. Das Haus stand eineinhalb Stockwerke hoch an einen sanften Hang geduckt, unterhalb dessen das Flussbett des Arroyo Seco verlief.
    Die Jungen rannten durchs Wohnzimmer und kletterten über die steile Treppe ins Obergeschoss hinauf, zwei kleine Zimmer unter den Schrägen des Spitzdaches. Die Holzdielen ächzten bei jedem ihrer Schritte. »Hier oben ist es wie in einem Adlernest«, rief Brandon, legte sich auf den Boden und spähte durch ein Fenster, das zwanzig Zentimeter über der Fußleiste anfing. Er betrachtete die Nachbarhäuser, die ausladenden Kronen der Eichen und Platanen und die grün gescheckten Früchte eines schwarzen Walnussbaums, die Sonnenstrahlen, die durchs Laub fielen und tanzende Lichtflecken auf den Gehweg vor dem Haus zeichneten. Er fühlte sich an die winzigen, sprechenden Waldwesen aus einem Kinderbuch erinnert, das er vor langer Zeit gelesen hatte.
    Unten maß Maureen das Wohnzimmer mit hallenden Schritten ab und bewunderte die Schnörkellosigkeit des American-Arts-and-Crafts-Movements, das die Ideale des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – Offenheit und Schlichtheit – baulich umgesetzt hatte. Licht und Luft durchströmten die Räume, die ihr vertraut vorkamen und sie an den Mittleren Westen erinnerten. Dieses Haus passte perfekt zu dem neuen Menschen, der sie von nun an sein würden; dass der Makler anders als seine Vorgänger nicht zusammengezuckt war, als die berüchtigte Familie aus den Nachrichten aus dem Auto stieg, wertete sie als gutes Omen.
    »Es ist von neunzehnhundertneunzehn«, sagte Scott mit einem Blick in die Broschüre, als er ihr die Treppe hinauf folgte. »Wahrscheinlich muss man die Wasserleitungen erneuern lassen.«
    »Wen kümmern schon die Wasserleitungen?«, fragte Maureen. Wir fangen neu an und werden uns dabei nicht von ein paar alten Rohren aufhalten lassen , dachte sie.
    Sie ging auf die Veranda zurück und bewunderte die Straße mit den hohen Eichen und den verblühten Jacarandas, die in lila Blütenpfützen standen. Diese
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