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Nur Der Tod Bringt Vergebung

Nur Der Tod Bringt Vergebung

Titel: Nur Der Tod Bringt Vergebung
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I
     
    Der Mann war noch nicht lange tot. Das Blut und der Speichel um seine verzerrten Lippen waren noch nicht einmal trocken. Die Leiche hing am Ende eines kräftigen Hanfseils vom Ast einer knorrigen Eiche und schwang im Wind hin und her. Wo das Genick gebrochen war, hatte sich der Kopf in einem seltsamen Winkel zum übrigen Körper verdreht. Die Kleider waren zerrissen, und falls der Mann Sandalen getragen hatte, waren sie von Leichenfledderern entwendet worden. Jedenfalls war von seiner Fußbekleidung nichts mehr zu sehen. Die verkrampften, blutüberkrusteten Hände zeigten, daß der Mann nicht kampflos gestorben war.
    Doch nicht die Tatsache, daß ein Mann erhängt worden war, hatte die kleine Gruppe von Reisenden dazu gebracht, bei der alten Eiche haltzumachen. Seitdem sie von Rheged ins Königreich Northumbrien gekommen waren, hatten sie schon zahlreiche Hinrichtungen und andere grausame Bestrafungen gesehen. Offenbar wandten die dort wohnenden Angeln und Sachsen strenge Strafen auf all jene an, die ihre Gesetze übertraten – von den grausigsten Formen der Verstümmelung bis zur Hinrichtung unter den qualvollsten Umständen, wobei das bloße Erhängen noch als menschlichster Weg erschien. Nein, es war nicht der Anblick eines weiteren an einem Baum aufgeknüpften Unglücklichen, der sie beunruhigt hatte. Daß sie ihre Pferde und Maultiere so plötzlich zum Stehen brachten, hatte einen anderen Grund.
    Die kleine Reisegesellschaft bestand aus vier Männern und zwei Frauen. Sie alle trugen geistliche Gewänder aus ungefärbter Wolle, und die Häupter der Männer waren vorne kahlgeschoren – eine Tonsur, die sie als Brüder der Kirche Columbans von der heiligen Insel Iona auswies. Wie auf Kommando hatten sie alle im gleichen Augenblick angehalten, saßen aufrecht in ihren Sätteln und starrten beklommen auf den Leichnam des Mannes, auf seine ängstlich aufgerissenen Augen und seine in einem letzten verzweifelten Ringen nach Luft herausgestreckte, schwarze Zunge. In den Mienen der Reisenden spiegelten sich Entsetzen und tiefe Besorgnis.
    Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten: Auf dem Haupt des Toten war ebenfalls die Tonsur Columbans zu erkennen. Und was von seiner Kleidung übriggeblieben war, deutete auf die Kutte eines Mönches hin, obgleich sowohl das Kruzifix als auch der Ledergürtel und die Ledertasche fehlten, die jeder peregrinus pro Christo trug.
    Der Anführer ritt auf seinem Maultier noch ein Stück näher und sah mit aschfahlem Gesicht zu dem Toten auf.
    Auch eine der beiden Frauen löste sich von der Gruppe und führte ihr Reittier noch dichter an die Eiche heran, um den Toten mit ruhigem Blick zu betrachten.
    Sie reiste zu Pferde, was darauf hinwies, daß sie keine gewöhnliche Ordensschwester war. In ihren blassen Gesichtszügen war keine Angst, sondern eine eigentümliche Mischung aus Abscheu und Neugier zu erkennen. Sie war noch jung, hochgewachsen und von anmutiger Gestalt, eine Tatsache, die ihr schlichtes Gewand kaum zu verbergen vermochte. Ein paar widerspenstige Strähnen roten Haares lugten unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Ihr blasses Gesicht war fein geschnitten, und ihre Augen blitzten hell. Es war schwer zu sagen, ob sie blau oder grün waren, denn sie schienen sich mit jeder Gemütslage zu verändern.
    «Kommt fort, Schwester Fidelma», murmelte ihr männlicher Begleiter sichtlich bewegt. «Das ist kein schicklicher Anblick für Euch.»
    Die junge Frau sah ihn verärgert an.
    «Für wen sollte dieser Anblick wohl schicklich sein, Bruder Taran?» gab sie zurück. Dann führte sie ihr Pferd noch näher an die Leiche heran und sagte: «Unser Bruder ist noch nicht lange tot. Wer könnte diese abscheuliche Tat begangen haben? Diebe?»
    Bruder Taran schüttelte den Kopf.
    «Wir sind in einem wilden Land, Schwester, und dies hier ist erst meine zweite Mission nach Northumbrien. Nicht mehr als dreißig Jahre ist es her, daß wir dieser gottverlassenen Einöde das Wort Christi brachten. Man trifft noch immer viele Heiden, die vor der Geistlichkeit wenig Achtung haben. Laßt uns schnellstens weiterreiten. Wer auch immer diese Tat begangen hat, hält sich vielleicht noch immer in der Nähe auf. Bis zur Abtei von Streoneshalh kann es jetzt nicht mehr weit sein, und wir sollten auf jeden Fall dort ankommen, ehe die Sonne hinter den Bergen versinkt.»
    Er zitterte leicht.
    Die junge Frau runzelte verärgert die Stirn.
    «Ihr würdet tatsächlich weiterreiten und einen unserer
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