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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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Auge größer werden, erfüllt von ihr, ohne Unschuld, ein ausschließlicher Blick ohne Schwäche, da wich sie etwas zurück, hypnotisiert von diesem Blick, ihr Rücken stieß an den Kofferraum des Autos, und je größer das Auge wurde, desto kleiner wurde sie, eingesaugt vom Zyklopen, da drehte sie sich eine Sekunde um, ohne nachzudenken, ohne es auch nur zu wollen, öffnete ohne Zögern den Kofferraum, sah die Lappen, die Plastikkanister, das Jagdgewehr, erkannte sie wie vertraute und notwendige Gegenstände. Es dauerte nur wenige Sekunden, kaum einen Atemzug, und wieder stand sie Patrick gegenüber, aber jetzt … mit dem Gewehr in der Hand.
    Zwischen ihm und ihr stand jetzt der Tod. Möglich. Konkret. Unmittelbar.
    Damit sie nie mehr zu den gewöhnlichen Tagen zurückkehrten. Nie mehr an der gemeinsamen Orgie teilnahmen.
     
    Sie hielt das Gewehr in der Hand, den Arm nach ihm ausgestreckt wie eine Einladung zum Walzer; erinnerst du dich, mein Herz, wie wir getanzt haben, erinnerst du dich an die Musik, die in unseren Bäuchen vibrierte, und du hast gesagt »Folge mir, lass dich führen«, aber heute morgen bestimme ich den Rhythmus. Das schwarze Auge auf dem Flügel des Todesengels starrt mich an, aber heute Morgen werde ich dich umstoßen, dich zu Boden werfen, damit es sich schließt, es wird weder Lachen noch Besitz geben, es wird weder Verleugnung noch Furcht geben. Ich halte deine Phantomhand in meiner Hand, lass dich führen.
     
    Er stand ihr gegenüber, er, der sie gekannt, der sie geliebt hatte … und der sie doch nicht erwählt hatte.
    Eine Liebe ohne Haus.
    Ein offenes Gefängnis.
    Die Freiheit der Hochmütigen. Und er schwankte zwischen reden und schweigen, sie zur Vernunft bringen oder zwingen. Er schwankte, denn sie war eine neue Frau. Er sah, dass ihr kalt war, er sah ihre Müdigkeit, ihre fieberhafte Entschlossenheit, und trotzdem erkannte er sie nicht wieder in diesen vertrauten Schwächen, es war fast, als würde das Gewehr sie halten, als hebe es ihre Hand, strecke ihren Arm, und vor diesem Gewehr wusste er nichts.
    Mit Hélène hätte er sprechen können. Es hatte so häufig Vergebung zwischen ihnen gegeben, so häufig Rückkehr. Sie hatten die Demut des ersten Schritts erfahren, das Wort ohne Verdammung, die ewige Milde jener, die es nicht abwarten können, sich wiederzufinden.
     
    Er hätte sie gern daran erinnert, sie in diesen Raum der Barmherzigkeit zurückgebracht, in dem sie gelebt hatten, aber das Gewehr verbot ihm das Wort.
     
    Er hätte gern die Arme ausgestreckt, damit sie kam und damit sie einander festhielten, wie sie es so oft getan hatten, stumm, fast reglos, in Sammlung und unendlicher Annahme.
    Aber das Gewehr bremste seinen Impuls.
     
    Er sah sie an. Damit sie sich durch diesen Blick an das erinnerte, was sie vermocht hatten, an die Gnade, die ihnen geschenkt war, diese wilde, ungeschickte Liebe. Einzigartig.
     
    Aber das Gewehr richtete sich zwischen ihnen auf, um sie dahin zu führen, wohin sie nie gegangen waren. Es war der Herr des Vergessens. Es hatte ihnen die Macht und die Furcht gegeben.
    Es lag in Hélènes Hand wie die Frucht einer verdorbe nen Liebe.
    Und jetzt schämten sie sich. Und jetzt hatten sie keinen Ort mehr, an den sie gehen konnten.
     
    Da schoss sie.
    Damit alles explodierte.
    Damit alles aufhörte.
    Sie schoss. Einmal. Zweimal. Dreimal.
    Sie waren durch das Feuer verbunden. Durch den Knall. Durch den Blitz und die Angst.
    Sie waren die Einzigen, die diese Auflehnung kannten, sie waren die Ersten, die erlebten, wie man flieht, wie man in die Explosion rennt.
    Sie waren die erste Liebe.
    Die letzte Hoffnung.
     
    Und dann der Sturz.
     
    Der Mann am Boden. Zwischen Leben und Tod. Zwischen Himmel und Schlamm.
     
    Er lag am Boden, sein Leben bald versunken und ihre Geschichte vernichtet, nie geschrieben, niemals mehr gelebt. Und ihr Lachen und ihre Küsse und ihre Orte und ihre Hoffnungen und ihre Zeit … Die Zeit, die nur ihnen gehörte. Ihre Zeit war abgelaufen.
    Er lag am Boden und der Himmel erschien ihm so hoch, so fern, so stumm. Er öffnete das Geheimnis, ohne ihn zu sich zu rufen. Er vergrößerte den Zweifel, ohne Zuflucht zu bieten, und der Mann wog schwer auf dem Schlamm, unter dem verweigerten Himmel.
     
    Er lag am Boden und sein Blut floss in ihm wie ein zurückgehaltener Kummer, Hélène schmiegte sich an seine Wärme, seinen Geruch, seine letzten Zuckungen. Sie hörte weder die Stimmen ringsum noch den Gesang der blauen Sirenen. Sie
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