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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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Gegenstände bewegten sich nicht, nichts war wie immer, und nichts würde je wieder sein wie vorher.
    Die Sozialarbeiterin hatte den Geldhahn zugedreht. Die Familienbeihilfe gestrichen. Sie hatte einen monatlichen Geldeingang auf dem Konto der Eltern festgestellt: den Scheck der Cousine, das Bild, begleitet von »VKBB«. Panik. Katastrophe. Die Armut ist voller Stufen, die alle in dieselbe Richtung gehen, abwärts, die Richtung der Erniedrigung, und sie mussten noch weiter absteigen in Entbehrung, Schlaflosigkeit und Angst vor dem Morgen, sich abstrampeln in endlosen Berechnungen, hartnäckiger Würde, und Hélène hatte ein neues Wort im Vokabular der Angst gelernt: Familienbeihilfe. Beihilfe. Hilfe!
    Wie viel zahlst du für diese Frau?
    »Eins zwei drei im warmen Sand, wie viele Taler hab ich in der Hand?«
    Viele. Ich habe viele Taler in der Hand, Papa. Jetzt, wo du sie nicht mehr willst.
     
    Sie legte das Handy ins Handschuhfach zurück. Mit der Brieftasche. Sie hatte beides gestohlen, ohne es zu wollen. Gattendiebin. Autodiebin. Brieftaschen- und Handydiebin. Geschichtendiebin.
    Sie schaltete die Zündung ein.
    Sie würde weitermachen.

 
     
     
     
    Es DAUERTE EWIG , bis sich das Auto wieder aufwärmte. Sie schniefte ein bisschen in der Kälte und zog ein paar Grimassen, machte den Mund weit auf, zog die Wangen ein, um sich aufzumuntern und die Steifheit loszuwerden, kniff die Augen ganz fest zu, riss sie auf, bewegte sich auf ihrem Sitz, und weil ihr die Hemmung, den Vater anzurufen, die Stimmung verdorben hatte, beschloss sie, sich auf andere Gedanken zu bringen, indem sie alberne Lieder sang. Davon kannte sie eine ganze Menge, Lieder vom Schulhof, aus dem Ferienlager, Slows eines Sommers, blöde Kanons, patriotische Hymnen und sogar Kirchenlieder, sie hatte sie während ihrer ganzen Kindheit gelernt, bei Autofahrten, Abenden am Feuer, Bergwanderungen, sie konnte die Compagnons de la Chanson und Edith Piaf nachahmen, Minuit chrétien und Ma Normandie singen, 170 Kilometer wären zu kurz, um alle durchzugehen, sie begann wieder zu lachen, was würde sie mit den ganzen Liedern anfangen, sie, die nie ein Kind in den Schlaf gesungen hatte?
    Was würde sie mit ihren Texten machen, sie, die keine Anspruchsberechtigten hatte?
    Eines Tages würde sie Gemeingut werden, eines fernen Tages, da ihr Vater schon gestorben wäre und erlöst von Traurigkeit und Scham, und dann würde alles eingestampft werden, ohne dass jemand widersprechen würde, ihr Roman mit Patrick würde zerrissen werden wie alles andere.
    Alle Qualen.
    Alle Schmerzen.
    Alle Sorgen.
    Verdampft wie der Morgennebel.
     
    Sie drehte die Scheibe runter, der eisige Wind zerzauste ihr Haar, traf ihre Lider, sie streckte den Kopf aus dem Auto; da es nicht genug Kilometer für alle ihre Lieder gab, nicht genug Zeit, um ihren Frust herauszulassen, würde sie im Nirgendwo und gegen das Nichts anschreien, wie eine Aufrührerin, eine Rasende, würde über die leere Autobahn, die kahlen Felder brüllen, ihre erbärmliche Leidenschaft, ihre nutzlose Kohle, ihren trockenen Bauch herausschreien, alles, was ihr fehlte, mit oder ohne h. Und sie brüllte lange, ein durchscheinender, kaum hörbarer Schrei, übertönt vom Lärm des Autos und des Windes, ein stummer Schrei, gepeitscht vom Sturm, stumme Wut, dann schloss sie das Fenster wieder.
    Sie rang nach Luft wie eine aus dem Wasser gezogene Ertrinkende, verblüfft, atemlos, Augen und Mund ausgetrocknet. »Beruhige dich, mein Liebling, mein Schätzchen. Beruhige dich.« Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte, wie gegen die Müdigkeit ankämpfen, gegen die Gedanken, die sie durchfuhren, sie trieb seit vielen Tagen allein auf dem Ozean, die Einsamkeit würde sie verrückt machen, sie wusste nicht mehr, ob sie singen, brüllen, mit sich reden, sich bewegen oder sich nur auf die Kilometer konzentrieren sollte, die von den Scheinwerfern verschlungen wurden, dem mächtigen Tier gehorchen, zu dem das Auto geworden war. Sie hatte gebrüllt, wie man ein Gespann antreibt, wie man die Räuber in die Flucht schlägt, aber die Autobahn war leer, es geschah nichts, Patrick und ihr Vater schliefen, niemand sorgte sich um sie, sie schrie bei 200 Stundenkilometern, sie war in Gefahr und konnte dem Tod begegnen, jetzt, in dieser Sekunde in seinen Armen zerschellen, und wer würde dann erfahren, was für eine Nacht sie durchquert hatte? Wer würde von der Einsamkeit erfahren, die dich umklammert, wenn die Angst dich losgelassen
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