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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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hat?

 
     
     
     
    E RINNERST DU DICH , mein Liebling, mein Schätzchen, wie er Blut gespendet hat? Du saßest neben ihm und starrtest auf die riesige Nadel, die in seiner riesigen, vorspringenden, gelb angemalten Vene steckte, und er scherzte immer mit den Schwestern, immer ein nettes Wort, eine Neckerei, sie kannten ihn gut, er kam so oft, manchmal zu oft, das war nicht erlaubt, aber wenn es einen Notfall gab, rief man immer ihn an, dein Vater war immer bereit, denn er war »Universalspender«, wie stolz er darauf war: »Ich bin Universalspender, ich bin 0-negativ und du auch, Hélène, alle meine Kinder sind es, alle meine Kinder können allen Blut spenden, aber aufgepasst! Nur sehr wenige können für euch spenden!« Und in den Straßen von Perpignan hast du die Passanten angesehen, die Leute auf den Terrassen und in den Autobussen, auf dem Fahrrad und in den Geschäften, und du wusstest, dass dein Vater mit seinen riesigen Venen und seinem Universalblut sie alle retten konnte. Auf der Windschutzscheibe des Autos mit den unzählbaren Kindern hatte er einen Aufkleber angebracht, ein knallrotes Kreuz: »Blutspender«, er hatte eine Medaille erhalten, er hatte seinen Blutspenderausweis und seinen Ausweis für kinderreiche Familien, dieser universelle und vervielfachte Maurer, aber du, mein Schätzchen, mit leerem Bauch und dünnen Venen, die wegrutschen wie ein feuchter Faden, du bist dazu nicht imstande, oh nein! Das Blut deines Vaters war in den Krankenhausfluren und auf der Entbindungsstation, in den Sirenen der Ambulanzen, auf den Autobahnen, und es gefiel dir nicht, dass sein Blut »0-negativ« hieß. Negativ. Null und negativ, wertlos, denn letztendlich … gibt es immer eine Strafe. In manchen Ländern bezahlt man für das Blut der Armen, aber das hätte dein Vater nie getan, arm ja, Verkäufer niemals.
     
    Und Hélène fuhr jetzt ruhiger, da ihre Gedanken zu alten Bildern abschweiften, sie kämpfte nicht mehr mit den Kilometern, ließ sie einfach hinter sich. Sie wehrte sich nicht mehr gegen die Müdigkeit, entspannte sich etwas, noch aufmerksam, weniger eigensinnig, sie ließ die Zügel locker, und schon nahm die Landschaft andere Formen an, der Morgen war fast hell über den hügligeren Feldern, die Städte folgten dichter aufeinander, sie war nicht mehr allein auf der Straße, ab und zu kam ihr ein Auto entgegen, ein Lastwagen mit Planen, ein Bus mit schlafenden Touristen.
    Sie legte den Weg in umgekehrter Richtung zurück, den Patrick hätte fahren müssen, wenn er anstatt zu lachen gekommen wäre, um Isaac die Fresse einzuschlagen, mitten in der Nacht, mitten auf der Buchmesse: »Das ist MEINE Frau! MEINE Frau, verstehst du, Scheißkerl?« Aber Isaac hätte nichts verstanden, Patrick hätte ihn im Bett angetroffen, vielleicht mit einer anderen Frau, mit zwei Frauen, mit einer Frau und einem Mann, mit allem, was man will, nur nicht mit ihr, ihr, der man Anträge machte und die man dann vergaß, denn das Leben ist ein weites Jagdfeld, ein Selbstbedienungsladen unter freiem Himmel, ich nehme dich, ich verlasse dich, ich habe Lust, etwas anderes zu probieren. He! Sie da! Ja, Sie! Warum nicht? Warum nicht er, warum nicht sie, ein Universalspermaspender, aber seit Patrick sah sie diese lächerlichen Komparsen nicht mehr. Keiner von ihnen hatte Patricks schwarze Augen, die in sie eindrangen, um sie ganz und gar zu lesen, ihre Vergangenheit zu erfahren, ohne dass sie sie erwähnte, ihre Müdigkeit, ihre Hoffnungen zu verstehen, ohne dass sie darüber sprach. Nur Patrick wusste ohne Erklärung, ohne Erörterung, wusste durch ihre Art zu gehen, ihn anzulächeln, sich zu ihm zu flüchten oder mit ihm zu sprechen, das Gesicht ein wenig abgewandt, wie es ihr ging, was sie brauchte. Er sagte: »Es ist das erste Mal, dass ich eine Wildkatze zähme«, das war bescheuert, solche Sätze sind bescheuert, wenn man nicht verliebt ist, aber wenn man liebt, sind die einfachen Sätze, die schlichten Metaphern die wahrhaftigsten, ebenso ergreifend wie ein Liebeslied, ein billiges Lied mitten ins Herz gefeuert, wenn man liebt, kehrt sich die Intelligenz um, teilen sich die Fluten, verschwindet das Überflüssige mit erstaunlicher Leichtigkeit, und so viele Dinge, an die man sich geklammert hatte, werden unnütz. Man wollte geliebt, anerkannt und verstanden werden, von so vielen Idioten, falschen Freunden, Komparsen, aber eigentlich zählt nur noch der Geliebte, die Zeit vergeht mit ihm und die Zeit vergeht ohne ihn mit
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