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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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das Unvorhersehbare.
     
    »Hallo?«
     
    Patricks Stimme klang besorgt, noch verschlafen, aber wachsam, beinah aggressiv, die Stimme, mit der er nie zu ihr gesprochen hatte, da er immer ihre Rufnummer erkannte.
     
    »Ich bin’s.«
     
    Wie gern sie das sagte, es ihm allein sagte und nur ihm, ICH BIN ’ S , und das ICH wurde riesig, nahm den ganzen Platz ein, ICH BIN ’ S ! Bei dir bin ich ich, durch dich erkenne ich mich und erkenne mich wieder, und du kannst mir alle Namen geben, die dir einfallen: meine kleine Sonne, meine Schöne, meine Liebste, mein Eichhörnchen, mein Wildkätzchen, das bin ich und immer ich, die dummen und wunderbaren Spitznamen werden immer Hélène sein, ich bin es, durch dich kann ich es behaupten, verkünden, herausposaunen, ich bin’s mit dir durch dich für dich, ICH BIN ’ S !
    »Ich bin im Bois. Am Ende deiner Straße, kennst du den Chemin des Eglantiers? Hinter der Kreuzung von –«
    »Kenn ich. Aber was machst du da?«
    »Komm!«
     
    Sie legte auf. So müsste das Leben immer sein. Im Imperativ. Komm! Lieb mich. Erwarte mich. Überrasche mich. Umarme mich. Ich bin’s. Beglücke mich. Wähle mich. Bevorzuge mich. Ich bin’s. Komm her. Komm!
    Und er würde kommen. Er würde gehorchen. Sie wusste es. Er hatte zu große Angst, dass sie an seine Tür klopfte, nachdem sie sich heute schon so nah herangewagt und ihn herbeordert hatte. Er würde die Herausforderung annehmen, das Duell akzeptieren.
    Sie legte die Hände um ihren Kopf, rieb sich die Lider, massierte die Schläfen, schob sich die Strähnen hinter die Ohren, kurze, schnelle Bewegungen, um nicht mehr zu zittern, den Körper zu bändigen, der in Erregung und Nervosität abglitt … Und was würde sie jetzt machen? Was würde sie ihm sagen, was wollte sie von ihm, was warf sie ihm vor? Zum Bräutigam bestimmt worden zu sein, unbehaglich im Gewand des Helden, Hauptperson eines Romans, der nicht von ihm erzählte, dem er aber den Namen gegeben hatte? Was wollte sie? Dass er wieder ihr Geschöpf wurde? Dass er dem Protokoll folgte, den zehn Geboten ihrer Leidenschaft, deren erstes natürlich lautete: »Du sollst nicht lachen«? Was erwartete sie von diesem verheirateten Schauspieler und Familienvater an diesem Novembersamstag im Bois de Boulogne? Was erhoffte sie anderes als eine Bestätigung, wie sehr sie sich getäuscht hatte? Verrückt bist du, mein Liebling, mein Schätzchen, ich hatte dir gesagt, du sollst das Herz im Kästchen lassen, geh weg, geh sofort weg, ehe das Double erscheint, die Gestalt des Liebhabers, die Hülle des Geliebten, aber ohne seine Anwesenheit, ohne das Licht und das Charisma, ohne die Kraft und die Poesie, geh weg, die Wahrheit ist niemals ein schöner Anblick. Nimm einen Weg in diesem Wald, egal welchen, verlauf dich in Boulogne, verlauf dich auf den Brücken über die Seine, renne, mein Schätzchen, kehre in deine wohltuende Einsamkeit zurück, spitz deine Bleistifte, lass deine Landschaften raus, erfinde, male alles in den Farben deiner Neurosen, geh schon, Hélène, renne, mein Eichhörnchen, meine kleine Sonne, meine Schönheit, meine Liebste …
     
    »Mein Schatz, was machst du hier? Was ist passiert, Hélène, was machst du hier?«
     
    Er war da. Vor ihr, wirklich, unverändert. Instinktiv erkannte ihn Hélènes Körper als Verbündeten, als Blutsbruder, der sie beglücken und beruhigen konnte, er stand reglos vor ihr: ihre Verwirrung, ihre Müdigkeit und die Bestürzung, die er nicht verstand, er sah sie an, und der Zweifel machte ihn stumm, sie konnte seinen Geruch erraten, sich genau erinnern, die warme, prickelnde Vertrautheit, der leichte Rausch, dem sie sich so oft hingegeben hatte, denn mit ihm war sie weit vom Alltäglichen abgedriftet, ganz nah am Traum, sie hatte ihm ihr Vertrauen und ihre Hingabe geschenkt, sie dachte, sie hätte ihn erfunden, dabei besaß er, sie sah es in seinem Blick, das unfehlbare Wissen um sie, er war der Verwahrer, das Gefäß. Sie hatte sich ihm gegeben, und er hatte sie genommen, und jetzt war sie nichts mehr, sie lebte ohne sich. Er hatte sie gestohlen, für immer in sein schwarzes Auge eingeschlossen, sie war in dieser Pupille, deshalb war sie leer, ohne Hoffnung und ohne Angst: Wie kann man Angst haben, wenn man aufgehört hat zu existieren? Sie wollte sich zurückholen, sie wollte, dass er sie hergab, da, jetzt, ICH BIN ’ S , gib sie mir zurück, gib mir Hélène zurück, gib mir mein Leben zurück! Aber er hielt sie weiter fest, und sie sah das
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