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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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und dabei an ihrem Cognac nippten, hatte sie das Gefühl, abgestürzt zu sein. Sie war in ein Loch gestürzt. Und vereist. Erstarrt. Ihre Brust schmerzte. Warum konnte sie nicht einfach sagen, dass sie nicht einverstanden war? Dass sie ohne die Gratisausleihe in den Bibliodieken nicht mal einen Bruchteil der Bücher gelesen hätte, die ihre Kindheit retteten? Sie hätte es lächelnd sagen können: »Ohne die Stadtbibliothek von Perpignan wäre ich niemals Schriftstellerin geworden«, aber dann hätte es sicher Augenzwinkern und verstohlenes Grinsen gegeben, sicher hätten sie gedacht, dass das auch nicht so schlimm gewesen wäre, dass sie in diesem Beruf nichts zu suchen hatte – sie hätten diese Gedanken nur mit Blicken ausgetauscht, und wenn sie den Mut zu der Ergänzung aufgebracht hätte, dass sie niemals studiert habe, hätte der Ehrenwerte John, der langweilige und selbstgefällige Mann, sie mit einem Lächeln auf der Stelle zum Esel des Abends erklärt.
    Also ließ sie die anderen reden, fand sich damit ab, dass man die Armut niemals loswird. Und schämte sich ihres Schweigens.
    Ringsum leerten sich die Tische. Die Gäste verabschiedeten sich endlos voneinander. Verabredeten sich. Trafen Abmachungen. Sie hatten eine gemeinsame Sprache, eine konventionelle Originalität, gleiche Feindschaften, sie sagten: »Grüß X von mir«, »Sag Y, dass sie eine treulose Tomate ist.« Gratuliere diesem. Lade jenen ein. Alles lief perfekt. Jedem sein Platz. Seine Funktion. Selbstverständlichkeit, der Genuss der Selbstverständlichkeit.
     
    Wieder lächelte sie den selbstgefälligen Mann an, der sie schon den ganzen Abend langweilte, und versuchte ihr Gähnen zu verbergen, zu unterdrücken, zu ersticken, indem sie sich auf die Lippen biss, aber ihr traten Tränen in die Augen. »Hélène! Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie müde sind!«, sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Bei der Messe von R. ist es Tradition, bis zum Morgengrauen bei Loulou zu tanzen!«
    Alle waren einverstanden. Und sie auch. Es war so wunderbar, einverstanden zu sein! In derselben Stimmung zu sein. Alles mitzumachen. Sie tanzte leidenschaftlich gern. Die Augen schließen und stundenlang tanzen. Sich in den Hüften wiegen. Sich verrenken. Blind werden. Schwitzen. Sich zur Schau stellen. Sich vergessen.
    Sie beschworen die durchwachte Nacht im letzten Jahr herauf, die hatten sie gemeinsam: die durchwachte Nacht im letzten Jahr, als die Messe von R. noch nicht das war, was sie jetzt war, noch nicht das Opfer ihres Erfolgs, als man noch im Lion d’Or unterkam, sie wurden Eigentümer dieser Vergangenheit, eifersüchtige Eigentümer, sie sprachen davon wie von einem Schatz, den nur sie allein kannten, den sie allein gesehen hatten, mit seiner Beschreibung bewahrten sie die Mahlzeiten vor Langeweile und gaukelten den anderen und sich selbst vor, dass sie glücklich gewesen waren.
     
    Sie waren die letzten Gäste des Hotelrestaurants, die Kellner hatten schon abgeräumt und die Tische für das Frühstück vorbereitet. Weiße Tassen umgedreht auf den Untertassen, silberne Zuckerdosen und rosa Stoffblumen.
    Sie mussten nur noch aufbrechen, verdauen, schlafen, Stuhlgang haben und wiederkommen. Heißer Kaffee. Ein Tropfen Milch. Ein paar Süßstofftabletten und etwas Aspirin, um den Kater zu bändigen. Auf Wiedersehen und bis nächstes Jahr.

 
     
     
     
    D RAUSSEN WAR ES NEBLIG geworden. Es gab wenige Lichter, und jedes Licht war verschleiert. Die Laternen. Das Apothekenschild. Die Neonröhren der Bushäuschen. Sogar der Mond war wie von Wasserdampf gebläht. Die schneidende Kälte fiel auf die Schultern und den Nacken, zwang die Körper, sich zusammenzuziehen, die Köpfe, sich zu senken.
    Sie waren zu neunt und hatten mehrere Taxis bestellt, die auf sich warten ließen, alle trampelten auf dem Bürgersteig herum, einige überlegten, ob sie im Lion d’Or warten sollten, andere suchten einen Geldautomaten. Die eisig feuchte Nacht machte jedes Wort, jede Bewegung unwirklich und gezwungen. Der menschenleere Boulevard schien mitten im Nichts zu liegen, nur die Hinweisschilder, A10 Tours, Paris, N20 Etampes, Orléans, offenbarten die reale Existenz des Ortes, seine möglichen Verbindungen. »Man kann hier viel besser atmen als in Paris!«, sagte ein Optimist, dem niemals kalt war, daraufhin schlug ihm ein anderer vor, zu Fuß zu Loulou zu gehen, sie wechselten Scherzworte, kleine kältestarrende Herausforderungen, am Ende riefen sie
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