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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Autoren: Roman Ehrlich
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In den Leuchtstoffröhren, die über unseren Köpfen zu jeder Tageszeit für künstliche Beleuchtung sorgen, ist kurz ein klirrendes Geräusch zu hören.
    Ich schaue hoch, sehe aber nichts. Kein Flackern. Das Licht ist weitflächig, überall voll da und scheint herunter auf die Schreibtische, die Monitore, Drucker, die Beistellmöbel, die verschiedenen Frisuren und Scheitel, die kahlen Kopfhäute, die es zurückstrahlen. Draußen vor den Fenstern die letzten Stunden Tag. Goldenes Licht. Die Häuser der Stadt scheinen auf. Wenn man ans Fenster treten würde, dort, wo die gläserne Fassade die Luft der Stadt berührt, dann würde man unten den Fluss sehen, der jetzt auch schon aufstrahlt in der Abendsonne, man würde die Ziegelbrücke mit den vier hochragenden Türmen sehen, die diesen Fluss überspannt, das Grün und das Blühen der Bäume.
    Zwei junge Frauen am anderen Ende des Raumes blicken besorgt auf eine verkümmerte Topfpflanze. Auch sie schauen rüber zum Fenster. Eine der beiden deutet mit der Hand auf die Fensterfront, auf die Pflanze, dann an die Decke, die andere nickt und hält während des gesamten Gesprächs eine sehr kleine Gießkanne aus gelbem Plastik in der Hand. Auf der anderen Seite der gläsernen Fassade: die Luft des Abends über der Stadt. Und es muss eine warme Luft sein, die nach allem Möglichen riecht, während es hier drin, auf der klimatisierten Seite, nach frisch verlegtem Teppichboden riecht, nach Druckertoner, nach verbranntem Staub aus den Lüftern der Computer, ausgezogenen Schuhen, Plastik und heiß gewordenen Schreibtischlampen.
    Es wird draußen, vor dem Bürokomplex, wenn ich ihn verlasse, in einer Stunde vielleicht oder etwas mehr, ein warmer Abend sein. Am Flussufer, auf der Ziegelbrücke, auf den Bänken vor dem gläsernen Gebäude, dem grünen Parkstück auf der anderen Straßenseite, werden Menschen in kurzen Hosen, Kleidern, Unterhemden, mit Hüten und Baseballmützen herumsitzen, auf und ab laufen.
    Ich schaue einmal noch zu den beiden Frauen hin, die eine hält jetzt ein schwach herabhängendes Blatt in ihrer Hand.
    Ich erinnere mich an das, was Richard gesagt hat, vor ein paar Wochen nur, unmöglich kann das länger her sein, als dieses gläserne Gebäude, die Stadt davor, der Abend, die warme Luft noch absolut undenkbar gewesen sind. Ich sehe die eine der beiden Frauen vom Schreibtisch, auf dem sie halb gesessen hatte, aufstehen, die gelbe Gießkanne in der Hand, und denke an Richard, wie er sagt:
    Unter denen, die draußen auf dem Feld sitzen, erkennt man die Toten daran, dass der Schnee auf ihnen liegen bleibt.

ERSTER TEIL

Ich verließ die Stadt auf meinen Füßen zur kältesten Zeit des Jahres. Am Morgen war es dunkel gewesen, als ich aus dem Haus ging. Als ich dann am Stadtrand ankam, war bereits ein trübgraues Licht über den Himmel gekrochen. Ein paar dunkle Wolkenfetzen hingen unbewegt vor dem hellen Grau, kamen auch nicht an gegen die flächige Konturlosigkeit, gegen das Weiche, das sich über der ganzen Stadt und, wie ich sehen konnte, als ich ihre Grenze erreichte, auch über das umliegende Land erstreckte.
    Ich trat hinaus in eine vom Schnee weich und ruhig gewordene Landschaft.
    Diese Stadt geht nicht über in Dörfer, Satellitensiedlungen, Industriegebiete – an ihren Grenzen beginnen die Felder der umliegenden Bauernhöfe, alles war zugeschneit, vereinzelte Forste ragten aus der Landschaft mit ihren schwarzen, laublosen Zweigen und Stämmen, die Badeseen waren zugefroren und ebenfalls von einer weißen Schicht bedeckt.
    Es war kein lange vorher gefasster Entschluss. Ich konnte einfach plötzlich nicht mehr in meiner Wohnung bleiben, in meiner Straße, dem Viertel, kein einziges Mal mehr um dieselbe Ecke laufen wie gestern schon, mit dem kleinen Supermarkt auf der einen und dem großen Supermarkt auf der anderen Straßenseite, der Haltestelle der Straßenbahn zwischen den beiden Fahrspuren, den zerkratzten Scheiben des Wartehäuschens, dem Schienengeräusch, wenn die Straßenbahn an der Kreuzung um die Kurve fuhr. Ich wollte das auf einmal alles nicht mehr haben oder sehen, mir war das Geld ausgegangen und infolgedessen auch irgendwie die Zeit abgelaufen. Ich brachte keine Geduld mehr auf für die Arbeitsprozesse der Automaten, die meine Fahrscheine druckten, den Einwählvorgang meines Internetanschlusses, Warteschlangen von Menschen, selbst wenn ich an einer Tankstelle vorbeilief, an der ein fremder Mensch ein fremdes Auto betankte, machte mich das
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