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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Autoren: Roman Ehrlich
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der Hand und dann zum unsichtbar im Dunkel hockenden Publikum zu sprechen beginnen.
    Ich wachte auf, als draußen schon wieder einige Helligkeit aufgekommen war. Der Himmel war weiterhin grau bewölkt, und dicke Schneeflocken taumelten jetzt über dem Rastplatz und der Autobahn. Es gab zu dieser Stunde kaum Verkehr, auf den weißen Fahrbahnen waren nur schwach ein paar Reifenspuren zu erkennen.
    Ich stand auf und zog mich an, wollte aber noch nicht gehen und setzte mich auf einen der beiden Holzstühle mit buntem Sitzbezug, die dem Bett gegenüber an die Wand gestellt waren ohne Tisch.
    Aus meinem Rucksack nahm ich das eingewickelte Brot und aß einige trockene Stücke, holte mir Wasser für meine Thermoskanne am Waschbecken neben der Tür. Dann rollte ich die Tageszeitung, die ich aus dem Nachbarbriefkasten genommen hatte, auf meinem Schoß auf, blätterte darin herum und fand irgendwo in der Mitte die fast halbseitige Abbildung einer Luftaufnahme.
    Moderne Kulturlandschaft stand als Bildunterschrift darunter. Die Aufnahme war aus einiger Höhe aufgenommen worden. Ein kleiner Ort, nur als Fleck zu sehen, lag an einer Straße ohne Kurven, die quer über das gesamte Bild lief. Ansonsten waren auf dem Bild nur noch unzählige kreisrunde Felder zu sehen, künstlich bewässert, riesengroß und jedes in einem anderen Stadium der Reifezeit. Ich fand das Bild sehr schön, weil ich dachte, auf ihm sei die Wiederkehr, das Turnusmäßige der Zeit abgebildet. Wachstum, Reife, Ernte, wie auf Hunderten riesiger Uhren aus Mais und Weizen. Ich beschloss die Tageszeitung zu behalten und steckte sie zurück in meinen Rucksack. Dann nahm ich meinen Fotoapparat heraus und machte ein Bild vom Rastplatz vor dem Fenster. Nachdem ich den Auslöser gedrückt hatte, die Kamera gesenkt und wieder allein mit meinen Augen aus dem Fenster schaute, überkam mich zum ersten Mal ein tiefer Zweifel, ob sich all das noch mal ändern könnte.

Als am Abend des 10. April 1815 der Berg Tambora auf der Insel Sumbawa, die zweihundert Jahre lang abwechselnd von holländischen, britischen und japanischen Besatzern kontrolliert worden war, explodierte, stieß er mit einem Mal einhundertvierzig Milliarden Tonnen Gesteinsmasse in die Luft, anderthalb Kilometer Berg, von der Spitze abwärts, sprengten sich aus dem alten Gefüge und regneten auf die umliegende Landschaft herab. Überfaustgroße Brocken schlugen in die Reisfelder und Hütten der Bauern ein, Ascheregen und Schwefelregen folgten, Tsunamiwellen, die Dörfer und Siedlungen rund um den Tambora wurden allesamt vernichtet. Noch bevor man die kilometerhohe Aschesäule sehen konnte, die aus dem Vulkankrater aufstieg, hörte man überall auf den indonesischen Inseln die Detonationen. Aufgeschreckt und hektisch gingen die Besatzer in Stellung, Schiffe wurden aufs Javameer ausgesandt, man griff zu den Waffen und spähte in den Abend nach feindlichen Truppen.
    Feuerstürme, rot glühende Gaswolken, Asche und flüssiges Gestein fluteten die Flanken des Tambora herab ins Meer. Eine schaumige Kruste bildete sich auf der Wasseroberfläche, in sie eingebacken die Vegetation, Häuser, Tiere, Menschen, die in dem heißen Rutschen und Fließen umgekommen und mitgerissen worden waren. Großflächige Bruchstücke dieser Schaumkruste trieben hinaus auf die See und dort jahrelang herum. Immer wieder stießen Fischer und Fernreisende auf solches Treibgut.
    Infolge des Ausbruchs verfinsterte sich der Himmel. Der Staub, die Asche und die Gase stiegen in die Stratosphäre, gelbliche Dunstschleier, die vom Wind um den ganzen Erdball getragen wurden, das einfallende Sonnenlicht wurde von diesem säurehaltigen Dunst zurückgeworfen. Wenn es regnete, regnete es Schwefel und Asche, die Böden und das Grundwasser wurden vergiftet, und durch den Mangel an Licht blieb es ein Jahr lang Winter auf der nördlichen Hälfte der Welt.
    Den Menschen in Europa und Nordamerika war die Ursache für diese Verdunklung, die Kälte und die ungewohnten Niederschläge lange unklar. Viele zogen aus ihren Häusern aus und hofften auf Besserung anderswo, fuhren vielleicht auf einem Schiff von Europa nach Amerika oder von dort zurück und fanden dann, auf der anderen Seite des Ozeans, auch nur dieselbe Dunkelheit vor, Schneefälle im Sommer, erfrorene Felder, Hunger. Keiner wusste, dass weit entfernt auf dem Planeten etwas aufgerissen war, explodiert, und so starrten sie fragend in den sternenlosen Himmel.
    Als ich Richard vom Ausbruch des Tambora
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