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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Autoren: Roman Ehrlich
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mir: So müsste man leben.
    Richard und ich haben auf dem Weg nach Hause nicht gesprochen. Wir sind nebeneinander her gelaufen, obwohl auf den dürftig geräumten Bürgersteigen im Ort kaum Platz dafür ist und haben vor uns auf den Boden geschaut. Jeder für sich auf den bekannten Weg. Das Haus war kalt geworden in unserer Abwesenheit. Wir gingen grußlos auseinander und in unsere Betten, ich machte das Licht aus, legte mich unter die Decken auf die Couch und war mir ganz sicher, dass Richard oben in seinem Zimmer mit offenen Augen im Bett lag.
    Ich konnte ganz deutlich spüren, dass ein anderes atmendes waches Wesen im Haus war, das auch nicht herausfand aus seinem Bewusstsein.

Abb. 27

Louis Link steht am 21. Juni 1886 mit geradem Rücken im Gerichtssaal. Er hatte das Angebot angenommen, abschließende Worte zu seiner Verteidigung vorzubringen. In einer ihm selbst auffälligen Abwesenheit hatte er einiges in den Raum hineingesprochen, der reichlich angefüllt war mit den Beteiligten am Prozess, den Angestellten des Gerichts, Zuschauern, der Presse und den Verwandten der Angeklagten. Es war ihm möglich gewesen, während des Sprechens über andere Dinge als das Gesagte nachzudenken. Er kam sich dabei selbst wie ein Flusswächter vor, der nah am Ufer das stete Vorüberziehen vor seinem Haus überwacht.
    Er sagt, nach einer Pause, in der es still gewesen ist, in der aus Neugier, Andacht, Respekt und Überheblichkeit geschwiegen wurde: Das Unheimliche ist ja nicht das Grauenhafte, das wir doch, wenn wir uns anstrengen, zu sehn vermögen. Sondern unsere Unfähigkeit, das Banale, das kompakt Unverrückbare zu erkennen.
    Er schaut aus dem Fenster auf eine vorüberziehende Wolke und sagt: Mit der Leidenschaft wird die Vernunft außer Kraft gesetzt.
    Im Schoß eines Gerichtsdieners sieht er zwei aus Bequemlichkeit wie zum Gebet gefaltete Hände und er sagt: Es ist ja mein Herz, das hier spricht. Da mag ich wohl ein paar Dinge gesagt haben, die ich sonst vielleicht heruntergeschluckt hätte. Es handelt sich um eine kalte und sehr düstere Zeit. Sie müssen selbst entscheiden, ob das, was Sie jeden Tag in Ihre Lungen atmen, noch saubere Luft ist, oder ob Sie besser schon ein Tuch vor die Nase halten gegen den Gestank.
    Er hört wie jemand hinter ihm aufsteht und den Raum verlässt.
    Vielleicht, sagt er, kennen Sie ja diese Geschichte: An einem Fluss steht ein Lamm und etwas weiter oberhalb steht der Wolf.
    Das Wasser fließt zuerst am Wolf vorbei und dann am Lamm, aber der Wolf sagt: Mach mir das Wasser nicht trübe! Und das Lamm erwidert: Wie kann ich dir denn das Wasser trüben, ich stehe doch hier unten.
    Louis sieht, wie sich der Stenograf gelangweilt die Nasenwurzel massiert. Einerlei, sagt er, sagt der Wolf. Fleisch ist Fleisch. Und er geht hin und frisst das Lamm.
    Gleich nach seiner Rede lässt Louis Link den Kopf hängen und hört gar nicht mehr auf die Reaktion des Richters. Er greift sich ins Gesicht und fühlt da für einen kurzen Moment ganz deutlich den Schädel unter der Haut.

Richard zeigt mit dem Finger auf die höchsten Funken, das helle Knistern weit über den Dächern. Der Widerschein des Feuers ist am Himmel zu sehen, ein Flackern über dem Ort, gelb und rot und dazwischen die dunklen Konturen der tiefhängenden Wolken.
    Wir stehen in der Einfahrt, das Lagergebäude und die Garage sind vom Brand verschont geblieben.
    Einige Ortsbewohner haben sich bis an den Garten herangewagt, wo auch Helbig steht und vom Schimmer des brennenden Hauses angeflackert wird. Er zuckt mit den Schultern und deutet mit seinen großen Händen auf das Haus, in den Garten und in den Himmel. Es fällt Schnee. Die Flocken schmelzen über dem Brand in der Luft oder werden von der Hitze auseinander getrieben in kleine, wirbelartige Verwehungen. Die Scherben der Fenster, einzelne Trümmerteile und Möbelstücke liegen, umgeben von Höfen aus geschmolzenem Schnee, im Garten und kühlen langsam aus.
    Aus dem Dachstuhl schlugen noch die Flammen, als ein Einsatzwagen der Feuerwehr ohne Sirene am Grundstück eintraf und rhythmisch aufscheinende Blaulichtflächen auf die umstehenden Fassaden warf. Der Brand war lange nicht im Griff, aber es war schon wieder sehr ruhig geworden um das Haus. Die Feuerwehrleute rückten aus auf eine Art, als hätten sie genau diesen Einsatz schon hundertmal geübt. Oder als sei der Einsatz selbst die Übung zu einem richtigen Brand. Ohne Aufregung wurden Schläuche ausgerollt und angeschlossen, ein paar
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