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Lieblingsstücke

Lieblingsstücke

Titel: Lieblingsstücke
Autoren: Susanne Fröhlich
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    »Jesus ist hier bei uns in Eschborn«, ruft die Stimme ekstatisch.
    Jesus ist in Eschborn. Das wäre, wenn es tatsächlich stimmt, ein ziemlicher Knaller. Ich meine, ich möchte Jesus nicht zu nahe treten, aber warum um alles in der Welt sollte er nach Eschborn kommen? Ein Mann wie Jesus hat doch wirklich andere Möglichkeiten. Wozu ist er schließlich Jesus? Was nützt einem so eine Funktion, Beruf wäre wohl die unpassende Bezeichnung, wenn man dann doch in Eschborn rumhängen muss? Und noch dazu bei diesem Schmuddelwetter. Da wäre es doch bestimmt auf den Malediven oder den Seychellen netter. Wärmer allemal. Die Strände, die Palmen, das türkisfarbene Wasser, nette Cocktails, all das sollte Jesus ja wohl bekannt sein. Und ansonsten, falls ihm das Rumliegen am Strand nicht so gefällt, viele Männer langweilen sich da ja schnell mal, und Jesus ist ja nun eindeutig ein Mann, gibt es auch noch Städte wie New York, Rom, Venedig oder Paris. Internationale Metropolen. Und wenn es denn unbedingt Deutschland sein muss, würde ich an Jesus’ Stelle doch lieber mal nach Berlin. Für Jesus würde sich der Wowereit sicherlich einen Abend frei nehmen. Dass Jesus’ Wahl angeblich ausgerechnet auf Eschborn fällt, genauer gesagt aufs Gewerbegebiet Eschborn Süd, spricht entweder für seine Leidensfähigkeit (die ja weitreichend bekannt ist) oder auch nur dafür, dass er entweder keinen Geschmack oder keine Ahnung hat. Beides aber sollte man von Jesus doch erwarten können.
    »Jesus ist in Eschborn und sagt uns hallo«, wiederholt
die Stimme noch aufgeregter die gewagte These, und weil das so dermaßen bekloppt ist und alle trotzdem so irrsinnig bewegt sind, nutze ich diesen Moment, nehme meine Tasche und meine Decke und verlasse so unauffällig wie möglich den zugigen kleinen Raum über der örtlichen Mehrzweckhalle. Vielleicht hat Jesus ja Lust mitzukommen. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er an dieser Veranstaltung hier Spaß hat. Ich jedenfalls nicht. Überhaupt nicht, und deshalb muss ich hier weg.
    Annabelle kommt mir hinterher.
    »Wo willst du denn hin?«, fragt sie entsetzt, »das Seminar geht doch noch den ganzen Tag!«
    »Ich bitte dich«, sage ich, »was soll denn nach Jesus noch kommen?«, und hoffe, dass sie den Scherz kapiert. Tut sie aber nicht.
    »Hast du ihn auch gesehen?«, will sie ernsthaft wissen, und ich weiß wirklich nicht, wie diese Frau meine Freundin sein kann.
    So viel habe selbst ich verstanden. Beim Channeling spricht man durch andere. Also Jesus durch unsere Seminarleiterin Asmara. Deshalb kann man ihn auch definitiv nicht sehen, höchstens hören. Annabelle, meine Freundin, ist, unter uns gesagt, nicht das hellste Licht, aber dafür eine absolut hartnäckige Person. Immerhin hat sie mich zu diesem bescheuerten Seminar überredet. »Channeling mit Asmara« nennt sich diese dubiose Veranstaltung, zu der man nur eine warme Decke, etwas zu essen und die Teilnahmegebühr von zweihundertneunzig Euro mitbringen muss. Natürlich auch eine gewisse Empfangsbereitschaft. Um die geht es Asmara, der Channeling-Fachkraft, die nun ebenfalls vor die Halle tritt, wohl weniger.
    »Hey Moment mal«, keift sie mich an, »was ist denn mit
dir los? Wo willst du denn hin? Du hast deine Teilnahmegebühr noch gar nicht bezahlt!«
    Wie profan. Da hat sie gerade Jesus in sich selbst entdeckt, und anstatt mit ihm ein wenig zu plaudern – da gäbe es doch sicherlich Interessantes zu erfahren und, unter uns, auch jede Menge offene Fragen –, rennt sie mir hinterher und grämt sich um ihre zweihundertneunzig Euro. Als ob Jesus nicht wesentlich mehr wert ist. Wenn sie clever wäre, hätte sie die Zeitung angerufen. Die Taunuszeitung. Für Jesus wäre vielleicht sogar jemand von der Bildzeitung erschienen.
    »Jetzt ist mir Jesus wegen dir entwischt!«, klagt sie mich nun auch noch an und macht ein bekümmertes Gesicht. »Jesus braucht absolute Aufmerksamkeit!«
    Was soll man dagegen bloß sagen? Dass alle Männer absolute Aufmerksamkeit brauchen? Dass ich dachte, dass Jesus da drüber stehen würde und nicht so kleinlich wäre? Bevor ich anfange, mich zu rechtfertigen, gebe ich auf, stammle was von: »Ich war so überwältigt, musste nur mal eben an die frische Luft«, und fühle mich wie ein flüchtender Häftling, der kurz vor der ersehnten Freiheit von seinen Gefängniswärtern wieder aufgegriffen und hinter die Mauern zurückgeführt wird.
    Wie ein Rind zur Schlachtbank lasse ich mich zurück in die
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