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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Autoren: Roman Ehrlich
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Fernleitungsmasten wurden weich, griffen nach vorn und zogen sich entlang der Stromleitungen übers Land.
    Ich schüttelte dann meinen Kopf und Körper wie ein nass gewordener Hund, und meistens kehrte auch alles an seinen ursprünglichen Platz zurück.
    Es brauchte keine Schilder oder bekannte Gebäude, um zu bemerken, dass ich dem Ort immer näher kam.
    Ich spürte, dass die Spuren meiner Stiefel im Schnee, auch wenn er sonst ganz unberührt war, auf anderen Spuren verliefen, die sich unter der weißen Schicht durch die Landschaft zogen. Ich wurde vorsichtig beim Gehen.
    Bald erreichte ich das ehemalige Militärgebiet zwischen dem Inland und dem Ort an der Küste und schaute mich um nach den markierten Feldwegen. Dieses weitläufige, größtenteils gesperrte Gebiet umschließt den Ort im Süden in Form einer großen Niere und erstreckt sich weit über die Landkreisgrenzen hinaus. Wer sich dem Ort mit einem Auto nähert, muss das Gebiet umfahren. Durch seine große Ausdehnung fällt einem der Umweg gar nicht auf. Man fährt an einem langen Streifen Wald vorüber, auf der anderen Straßenseite ziehen die Felder vorbei, Raps und Weizen, Futtermais, Kartoffeln und Zuckerrüben. Rot bestrichene Holzpfosten, die selbst in der vollkommen überschneiten Landschaft gut zu sehen sind, markieren zu beiden Seiten die Wege, die zum Gehen durch das Gebiet freigegeben wurden.
    Hundert Jahre lang war das Gebiet den Truppen der wechselnden Regierungen und Besatzer Militärstützpunkt und Waffenübungsplatz gewesen, bevor die letzten von ihnen vor ein paar Jahrzehnten abzogen, einige Wege absteckten zum zivilen Gebrauch, das Kriegsgerät fast vollständig mitnahmen und sonst alle Türen und Gatter, die vorher so gut verschlossen und bewacht waren, offen stehen ließen, auf dass allen gleich einleuchten konnte, es war nicht der Ort so kostbar, dass er bewacht werden musste, sondern die Aufgabe des Bewachens selbst.
    Meine Eltern hatten nach dem Abzug der Truppen eines der sehr preiswerten Häuser in der Nähe des aufgelassenen Militärstützpunktes gekauft. So günstig kam man nirgendwo sonst im Land an eine Immobilie am Meer. Und als ich das dachte, während meiner ersten Schritte entlang der roten Pfosten, wurde mir bewusst, dass ich es bisher vermieden hatte, während des ganzen Gehens, überhaupt an meine Eltern zu denken, die ja schließlich, in ihrem Haus sitzend, mein Ziel gewesen waren.
    Wegen der erhöhten Militärpräsenz, der immer neuesten Kriegsgeräte, die man für den Ernstfall im Gebiet testete, war den Bewohnern des Ortes die Nutzung der sie umgebenden Landschaft weitestgehend verboten worden. Es gab auch kaum kommerziellen Fischfang, da der kleine Ortshafen ebenfalls durch das Militär besetzt war – ein Kontrollposten mit Wachturm und ein ständig vor der Küste patrouillierendes Kanonenboot, das Technik und Soldaten vor seeseitigen Angriffen beschützen sollte.
    Im Wesentlichen lebte die Bevölkerung von den Bedürfnissen der Soldaten. Der kleine Ort war dazu übergegangen, einem anderen kleinen Ort, der die Kaserne war, als Versorgungsstelle, Kneipe, Wäscherei, Möbelwerkstatt und Eiscafé zur Verfügung zu stehen. Mit dem Abzug der Truppen wurde dieses Abhängigkeitsverhältnis einseitig aufgekündigt.
    Beim Laufen über den rot markierten Hauptweg stellte ich mir vor, wie sie hier in kleinen Gruppen beieinander gestanden, ihre Granaten in den Wald geworfen und mit einer Panzerfaust über eine Lichtung gefeuert hatten. Um dann mit einem Feldstecher dem Rauchschweif der Raketen hinterherzuspähen, bis irgendwo ein Einschlag und eine Explosion zu hören waren. Wie sie dann aufsprangen auf einen offenen Wagen und das Gelände auf den betonierten Wegen abfuhren, zum nächsten Schießplatz oder zurück in die Kaserne. Jahrzehntelang wurde hier in alle Richtungen das Kriegsgerät ausgetestet, bis keiner mehr genau sagen konnte, wo nicht vielleicht noch ein Blindgänger herumlag und wohin man noch gefahrlos einen Fuß setzen konnte. Das riesige Areal haben sie sich so kleingeschossen über die Jahre und es dann irgendwann einfach aufgegeben, sind abgezogen und haben vorher noch in regelmäßigen Abständen Schilder mit Warnungen vor munitionsverseuchtem Gebiet in den Boden gerammt. Im Sommer liegen die halb ins Erdreich eingesunkenen Granaten manchmal so lange in der offenen Sonne, dass sie sich von selbst entzünden, und die letzten Jahrzehnte wuchs auf dem gefährlichen Boden eine Wildnis heran, ungestört, an der
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