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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Autoren: Roman Ehrlich
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sich ungefähr ablesen lässt, wie hier die Landschaft einmal ausgesehen haben könnte vor der Besiedlung durch die Menschen. Weite Birkenwälder haben sich ausgebreitet, durch die im Sommer der Wind fährt und damit schon vorgreift auf das Rauschen an der Küste. Manchmal nur eine verkohlte Fläche, geschwärzte Baumstämme und verbranntes Gebüsch. Ab und an wird das Gebiet von Einheimischen durchwandert, die ihre Hunde an kurzer Leine führen.
    Zwischen diesem Gebiet und dem Meer liegt der Ort und zwischen dem Ort und dem Gebiet, durch Zufahrtsstraßen miteinander verbunden, verwaiste Kasernenbauten, ein kleiner Militärflughafen mit zwei großen Hallen und ein paar begrünte, als Buckel in die Landschaft gesetzte Shelter.
    Vor einigen Jahren wurde hier zum ersten Mal der Versuch unternommen, die militärischen Anlagen in einen Freizeitpark umzugestalten. Eine Gokartbahn sollte auf dem Flugfeld entstehen und die Kasernen zu Fremdenzimmern umgebaut werden. Die übrig gelassenen Uniformen, Gasmasken, Munitionskisten, Stahlhelme und Tarnnetze wurden zusammengetragen und als Einrichtung in den leeren Eingangshallen des Offizierskasinos und der Versorgungsgebäude aufgehäuft. Man wollte die realbrutale Nutzung sofort in Erlebnisgastronomie umwandeln und kam dabei dann doch auf kein friedliches Konzept.
    Aus einiger Entfernung kam mir auf dem Hauptweg ein Motorroller entgegen, mit schlingernden Lenkbewegungen langsam über den verschneiten Weg gesteuert, von einem Jugendlichen, der einen dicken Wintermantel trug und einen schwarzen Motorradhelm mit heruntergeklapptem Visier. Er blieb auf meiner Höhe kurz stehen und fragte mich durch seinen geschlossenen Helm hindurch, wer ich denn sei, und mir fiel nichts Besseres ein als zu fragen: Und wer bist du?
    Ich heiße Hannes, sagte er, und beim Sprechen beschlug sein Visier, sodass ich das Gesicht dahinter kaum erkennen konnte. Ich sagte, ich gehe nach Hause, und Hannes nickte, und seine rechte Hand gab wieder vorsichtig Gas.
    Ein paar Stunden noch lief ich durch die laublose Landschaft, in der jetzt alle Bäume aussahen, als wären sie von den gelegentlichen Explosionen verbrannt worden. Das Licht hatte längst schon wieder abgenommen, wahrscheinlich war die Sonne schon untergegangen oder gerade im Begriff, irgendwo hinter dem tiefgrauen Horizont zu versinken.
    Nur vom Schnee ging noch einige Helligkeit aus, als ich die ersten Kasernenbauten erreichte, Garagen, aus denen die Tore längst von örtlichen Schrotthändlern herausmontiert worden waren, ein Wächterhaus am Eingang mit eingeschlagenen Fenstern und leer getrunkenen Plastikflaschen auf dem Fußboden. Weiter hinten ragten die beiden Hangarhallen als düstere Schemen über die Bäume. Über alles hatte sich der Schnee ausgebreitet, auch auf einzelnen Handläufen, toten Strom- und Telefonleitungen, Holzpaletten, die an eine Hauswand geschichtet waren. Auf kleinsten Flächen stapelten sich die ineinandergekeilten Schneekristalle, höher als ich mir vorstellen konnte, dass die Gesetze von Schwerkraft und Statik es erlaubten, sofern sie noch in Kraft waren.
    Der Bau der Gokartbahn war offenbar mit Einbruch des Winters eingestellt worden. Ein halbfertiger Zuschauerrang ohne Sitze stand neben einem Gerüst mit der Aufschrift Start / Ziel , das die zugeschneite Fahrbahn überspannte. Reifenstapel zur Absicherung gefährlicher Kurven waren teilweise schon entlang der Strecke aufgeschichtet worden. Nahe den Kasernenbauten, in die bereits neue Fenster mit Plastikrahmen eingebaut waren, bei denen aus den Seitenkanten aber noch der Fugenschaum hervorquoll und die Scheiben mit blauer Schutzfolie beklebt waren, stand ein Betonmischgerät und daneben ein verrosteter Stromgenerator. Irgendwo hörte ich einen Hund bellen, konnte aber niemanden sehen. Im Schnee fand ich nur die Spuren von Vogelfüßen und von etwas, das vielleicht ein Marder war, eine Katze oder ein kleiner Fuchs.
    Ich lief durch diese Ruinen der letzten Anstrengungen, dem Ort eine Verwandlung abzuringen, und dachte an meine Eltern, die bei dem Bürgerentscheid vor ein paar Jahren gegen die Umnutzung der Anlagen gestimmt hatten. Zu gefährlich, hieß es von ihrer Seite, zu spärlich das Wissen darum, was alles auf dem Gelände vor sich gegangen war im Verlauf seiner kriegsgewerblichen Nutzung.
    Ich dachte an das Unheimliche, das von meinen Eltern ausging und sie gleichzeitig auch selbst ergriff. Das war kein Schrecken, keine Waffe oder offene Wunde, kein Fleck
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