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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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diesem Lachen, eine Sprache aus logischen Sätzen, die aufeinanderfolgten, sich aneinanderreihten, Intonation, Zeichensetzung, Redefluss aus einer anderen Welt, »Ich habe ihr von dir erzählt, ich muss einfach immer von dir sprechen, da hat sie es vorgeschlagen«, sie hatte diese Sprache nie erlernt, sie konnte sie nicht übersetzen, »Dein letzter Roman, das war unglaublich«, unglaublich, unglaublich, dass es etwas anderes gab als dieses Lachen, direkt neben diesem Lachen gab es Menschen, die sprachen, die etwas anderes zu sagen hatten als dieses Lachen, sie aber wusste es, alles war verstrahlt, jetzt musste man schweigen, dieses Lachen war eine Schlange, die durch ihre Kehle geglitten war, das Gift direkt in den Magen. »Sie kennt dich, sie mag sehr, was du schreibst«, wie soll ich ihm sagen, dass ich tot bin, wie ihm ein Zeichen geben, der Mann soll aufhören zu reden, dieser Scheißkerl, der gelacht hat, der niemals daran gedacht hat, sich niemals vorgestellt hat, mich eines Tages zu wählen, »Sie kennt dich, sage ich dir!«, ah!, sie kennt mich, das ist Wahnsinn, es ist Wahnsinn, wie viele Leute mich kennen, einfach so, von Weitem, in Gedanken, Vorahnungen von Bekanntschaft, Vermutungen – doch, ich kenne sie sehr gut, ich habe ihre Bücher gelesen –, ach ja, es ist total bescheuert, dass sie mich kennt und ich sie nicht kenne, aber er sie kennt und mich kennt, er kennt die Frau, die mich kennt und die ich nicht kenne, ich bin nicht da, und sie reden über mich, aber ich bin woanders, Wahnsinn, diese ganzen Leute, die mich kennen, und trotzdem keiner, der mich wählt, aber eben weil sie dich kennen, wählen sie dich nicht, nein, also wirklich, hast du dich gesehen, armes kleines Ding mit Socken an den Füßen, in einem Hotel für Sterbende, umgeben von lauernden Hirschkühen, nein, das ist wirklich zum Totlachen.
    Sie legte auf. Damit der Sturz aufhörte. Sie schaltete das Handy aus. Schwarzes Display in der schwarzen Nacht.

 
     
     
     
    S IE ATMETE UNTER DER D ECKE . Sie weinte geräuschlos, ohne Schluchzen, weinte wie in Zeitlupe, wie eine Unbekannte, die verschwindet, war nur das Bild einer Frau voller Tränen, in ihr aber nichts als Leere und die Gewissheit, dass sie soeben ihre eigene Welt verlassen hatte, alles, was ihr vertraut war, alles, was ihr lieb gewesen war, woran sie geglaubt, wofür sie sich geopfert hatte. Diesen Mann. Diesen Armlosen, der ihr die Hände entgegenstreckte. Diesen Verliebten mit dem winzigen Herzen. Nur eine Steinmurmel zwischen zwei Arterien. Diesen Mann, der sie einst von innen leuchten ließ – und nicht nur sie, sondern alles, was er berührte, jeden Ort, an dem sie waren, den Mann, der Paris für sie erstrahlen ließ, und sie war so vermessen gewesen zu glauben, dass diese Liebe, weil sie sie in Paris erlebten, sie für immer in das Geheimnis dieser Stadt eingebrannt hatte, Arsenal, Île Saint-Louis, Eglise Saint-Gervais, Select, jeder Ort würde sich an sie erinnern und jeder Passant, so viele Passanten, die sich nach ihnen umdrehten, nach ihren Küssen auf der Straße, nie von Schamgefühl gebremst, kein Nachdenken, nur Leidenschaft, Freude, immer neue Begeisterung, sich dem anderen zuwenden und in seine Arme flüchten zu können, seinen Mund so nah zu wissen und zu berühren, sich im Gehen zu küssen, sich mehr zu küssen als zu gehen, wieder und wieder, mit dem Lachen der Sorglosigkeit, der Lust zu fliegen, unter einen Torbogen treten, sich auf eine Bank setzen und sich wieder aneinanderschmiegen und wieder wie die jungen Leute sein, frei und so fröhlich, für nichts, einen Kuss, eine Umarmung …
    Hatte Paris, hatten die Passanten in Paris etwas gesehen, das sie nicht gesehen hatte? Gab es diese Liebe nicht? War sie selbst gar nichts? Dauerte das schon lange?
    Wie lange dauerte das schon?
     
     

II
     

 
     
     
     
    »I ST EIN B ILD DRIN ?«
    Diese Frage stellte der Vater jedesmal, wenn der Brief ankam. »Ist ein Bild drin?«
    Der Umschlag war lang und weiß, ein rechteckiger Umschlag, vornehm, reich. Das Brieflein im Innern, immer sehr kurz, endete unveränderlich mit: »Beim nächsten Mal schreibe ich länger. VKBB.«
    »Was heißt ›VKBB‹, Mama?«
    »Viele Küsse Bis Bald.«
    »Warum schreibt sie dann nicht: Viele Küsse bis bald?«
    »Weil sie es eilig hat. VKBB ist für Leute, die es eilig haben.«
     
    Natürlich schrieb sie auch beim nächsten Mal nie länger, aber darauf kam es nicht an, es kam darauf an, ob ein Bild drin war.
     
    »Wie viel
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