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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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hat sie diesen Monat geschickt?«, fragte ihr Vater.
     
    Der Umschlag war lang, rechteckig, in Scheckformat. Der Scheck half den Eltern jedes Mal. Jeden Monat. Die Zahl, die drauf stand, wurde nicht laut vorgelesen, Hélène hätte sie sowieso nicht verstanden. Es war ein Bild drin. Darauf kam es an.
    Dann ging sie wieder in ihr Zimmer spielen. Mit ihren Brüdern. Mit ihren Schwestern. Überall Kinder. Nirgends Geld. Ihre Spielsachen waren schöner als die ihrer Geschwister. Anziehsachen in ihrer Größe und trotzdem neu. Die, die sie im Geschäft kauften, ganz selten, von dem Scheck, nahm ihre Mutter immer zu groß, damit sie länger passten, man musste wachsen und wachsen, damit einem die Sachen passten, aber wenn man das Ziel endlich erreicht hatte, waren die minderwertigen Kleidungsstücke abgenutzt, verbraucht, erbärmlich, also wuchs man weiter, um sie loszuwerden, damit sie an die Schwester, den Bruder gingen, der direkt nach einem kam, wenn ein Kleidungsstück also einmal passte, war es unweigerlich alt.
    Aber nicht bei Hélène. Hélènes Sachen waren neu. In Paris gekauft. »Ich habe sogar die Champs-Elysées überquert, einfach so, um ihr Angst zu machen, ganz allein, als die Autos gerade losfuhren, und ich hab’s geschafft!«
    »Und? Was hat sie gesagt?«
    »Sie hatte Schiss rüberzugehen, als die Autos kamen.«
    »Und dann, als die Ampel wieder rot war?«
    »Dann ist sie rübergegangen.«
    »Und dann?«
    »Dann hat sie mir eine geknallt.«
     
    Und in ihren neuen Sachen, auf die sie gut aufpasste und die ihre Mutter gebügelt und sorgsam gefaltet in den roten Koffer legte, wuchs sie heran. Der Koffer begleitete sie. Perpignan Paris. Perpignan Orly. Um bei der Cousine ihrer Mutter zu wohnen.
    Der reichen Cousine.
    Und dort vor allem brav zu sein.
    Brav wie ein Bild.

 
     
     
     
    D ORT LIEBTE MAN SIE . Z U Hause liebte man sie auch. Man liebte sie überall. Man riss sich um sie. Gegen Geld. Die Cousine hatte keine Kinder. Der Cousine fehlten Kinder. Und ihre Mutter hatte so viele. Aber warum Hélène? Warum hatte sie in der Geschwisterschar Hélène ausgewählt? Nicht besonders hübsch. Sehr mittelmäßig in der Schule. Schlechter Charakter. Nervenbündel, das man vergeblich mit einer Mischung aus Gardenal und kalten Duschen zu beruhigen versuchte, nichts zu machen, schreckliche Ausbrüche, sie zerkratzte sich die Pobacken, wälzte sich auf dem Boden, brüllte und biss die Zähne so fest aufeinander, dass der Zahnschmelz zerbrach, schaukelte stundenlang auf der Sofalehne im Wohnzimmer; wenn die Cousine ihre Lieblingsplatte auflegte, die Geschichte vom Gestiefelten Kater, und während sich Hélène die Traurigkeit des Müllers vorstellte, dem der Vater bei seinem Tod nur einen Kater hinterließ, schaukelte sie vor und zurück, immer schneller, ihr Geschlecht öffnete sich wie eine Blüte, verhieß ihr neue, bald schon vertraute und sehr schnell alltägliche Empfindungen. Sie hatte die Sofalehne abgenutzt. Immer wieder. Die Cousine schenkte ihr ein wunderbares Schaukelpferd aus bemaltem Holz, lackiert, mit Steigbügeln, braunen Zügeln und einer eisernen Trense, ein Traum, und von da an brauchte sie ihre Lieblingsplatte nicht mehr, um zu schaukeln, sie musste nur sagen, dass sie mit ihrem Schaukelpferd spielte und sich tausend Geschichten von Prinzessinnen ausdachte, aber sie dachte sich nichts aus, sondern masturbierte einfach wie alle kleinen Mädchen, dann hatte die Cousine gedacht, sie wolle unbedingt reiten, und ihr ein echtes Pony geschenkt, und auf dem Sattel des Ponys, auf dem quietschenden Leder oder direkt auf dem verschwitzten Fell des kleinen Pferdes war es noch viel besser.
     
    Hélène schniefte, das Gesicht voll Tränen und Rotz, die Haare klebten ihr an den Wangen, sie schnäuzte sich in die dicken Laken, Pech für das Zimmermädchen, egal, was man von ihr denken würde, sie pflegte keine elegante Verzweiflung und hatte nicht die Kraft, sich aufzurichten, in diesem feindlichen Zimmer zu stehen, im brutalen Licht ins Bad zurückzugehen, sie erschauerte schon bei dem Gedanken daran, sie hatte Durst, schrecklichen Durst, und streckte eine Hand unter der Decke hervor, um das Licht anzuschalten, die Entfernung zwischen ihrem Bett und der Minibar abzuschätzen.
    Und das Zimmer tauchte auf. Die grausame Anonymität, die lastende Stille, die schlecht gerahmte Reproduktion, der leere Schrank, die weiße Gardine, an der Staub haftete. Mit ihren Schwestern spielte sie ganze Nachmittage lang mit
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