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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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den weißen Wohnzimmergardinen Verkleiden, spielte Braut, das untere Ende des Vorhangs auf dem Haar, die Prozession ging nicht sehr weit, zwei Schritte, und man war am Altar angelangt, aber man fühlte sich hübsch mit dem Vorhang auf dem Kopf und der kleinen Schleppe hinter sich, eine Schwester spielte den Priester, eine andere die Brautmutter, kein Bruder spielte den Bräutigam, das waren Mädchenspiele, und es war sowieso besser sich vorzustellen, dass man bei jeder Gelegenheit »Ja« sagen konnte, ohne den Vorhang loszulassen.
     
    Sie hörte ein Motorgeräusch, zwei zuknallende Autotüren, Stimmen, Absätze auf dem Asphalt, den sich entfernenden Motor. Die große Stille.
    Es war unglaublich. Sie schliefen nicht alle, es war gar nicht so spät, der Ehrenwerte John legte auf der Tanzfläche gerade erst richtig los, die Biografin von Elvis Presley übergab sich vielleicht in ihre Astrakankappe … wenn nicht gerade sie es waren, diese Stimmen und die Absätze in der Nacht, sie waren früher als die anderen zurückgekommen, hatten vor den anderen ihre Müdigkeit zuzugeben gewagt, eine Schwäche, die den obligatorischen Schwung und die gute Laune trübte, warum gute Laune spielen, wenn sie doch so viele waren?
     
    Sie dagegen war allein. Und weil ihr Handy ausgeschaltet war, konnte sie nirgends die Zeit ablesen, sie trug niemals eine Uhr, band nichts um ihre Handgelenke oder ihren Hals, nichts war an sie gebunden.
    Sie war allein, und die tiefe Dunkelheit der Nacht passte nicht zu dem, was sie sich vorstellte, sie hatte das Gefühl, seit Stunden in diesem Zimmer zu sein, den Eindruck, dass die Freude bei dem Gedanken, Patrick anzurufen, aus einer anderen Zeit stammte, von einer anderen Sie. Ja, in dieser ausgebreiteten Nacht war sie schon jemand anders. War die, die zu verstehen begann. Die es kaum wagte und trotzdem weiterging, das neue Gewicht der Lügen, die allein gelebte Liebe, ihre einsame Leidenschaft, so viele Erinnerungen entdeckte, Funken, Strahlen des Glücks, verwandelt in Beton in ihrem Bauch.
     
    Die Minibar war einen Meter vom Bett entfernt, das Zimmer war klein, alles war nah, aber zwischen der Minibar und ihr war ein kalter Raum, und schon als sie nur den Kopf, nur die Hand unter der Decke hervorgestreckt hatte, um das Licht anzuschalten, hatte sie die Aggressivität dieser Kälte gespürt, die sie vor dem Bett erwartete, um ihr den Weg zu versperren.
    Sie verzichtete.
     
    Warum war nur ein einziges Taxi gekommen? Warum kamen nicht alle zusammen zurück? War es auch nur ein Trugbild, dass sie sich die anderen als Gemeinschaft, zufrieden und in Paaren vorstellte? Sie bildete sich ein, dass sie den ganzen Abend aufmerksam und liebenswürdig gelächelt hatte, aber was hatten die anderen gedacht? Vielleicht, dass sie farblos war, unbedeutend, altjungferlich, verklemmt? Vielleicht erinnerten sie sich nicht mal, dass sie an ihrem Tisch gesessen, mit ihnen Gänseleber in Aspik und Erdbeercharlotte gegessen hatte. Und selbst wenn sie sich an diesem Abend noch an sie erinnerten, würden sie sie morgen auf jeden Fall vergessen haben. Und nicht nur sie, sondern alle, alle würden einander vergessen, das waren überflüssige Mahlzeiten, unnütze Abende, die sich in kein einziges Leben eingruben, man verbrachte die Zeit damit, die Zeit zu vergeuden, und wozu das alles? Um eines Tages der Wahrheit zu begegnen und sie wie einen Stein in seinem Bauch zu verankern.
    Die Jagdszene hing schief. Sie neigte sich bedrohlich nach rechts, und die Hirschkuh schien den Fluss hinaufzurennen. Als kleines Mädchen hatte sie im großen Bett der Cousine stundenlang auf die rosarote Toile-de-Jouy am Kopfende geschaut, abends und morgens hatte sie die Schäferinnen auf dem bedruckten Stoff zum Leben erweckt, die mit einem kleinen Korb und einem Hündchen zu ihren Füßen auf einem Stein saßen, und die Marquis, die sich zu ihnen neigten, auch sie elegant und rosig, ein Fuß auf dem Stein, das Bein graziös angewinkelt und der Schuh mit Bändern verziert. Sie brachte sie immer wieder zum Sprechen, jeden Morgen und jeden Abend hatten sie sich neue Dinge zu sagen, wurden einander niemals überdrüssig, wollten immer mehr, jeden Tag, als hörten sie die Worte zum ersten Mal, und wenn ihr das Dienstmädchen das Frühstück ans Bett brachte, kehrte Hélène aus der Welt des Traums in eine seltsame Wirklichkeit zurück, eine Wirklichkeit des Andersseins, alles war anders als zu Hause, aber das schockierte sie nicht, die Welt war eben
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