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Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen

Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen

Titel: Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
Autoren: Sabine Klewe
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PROLOG
    Die eisige Dezembernacht hatte die Stadt in ein silbrig weißes Laken gehüllt. Eine schimmernde Schicht Reif bedeckte den Gehweg, verzauberte die Dächer und das Geländer am Flussufer. Der Atem des Winters.
    Gary Davids zog den Mantel enger um die Schultern und bog um die Ecke. Vor ihm lag der imposante historische Gebäudekomplex des Royal Naval College im fahlen Morgenlicht. Dahinter erstreckte sich die Themse, grau und träge. Die Straßen von London waren noch fast menschenleer. Er hörte ein paar vereinzelte Autos auf derRomney Road, und irgendwo in der Ferne ertönte die Sirene eines Polizeiwagens.
    Gary wandte sich nach rechts und ging die Park Row entlang. Mit entschlossenen Schritten marschierte er Richtung Themse-Ufer. Wie jeden Morgen war sein Ziel der Fußgängertunnel, der hinüber zur Isle of Dogs führte, nach Millwall, dem ehemaligen Hafengelände, dort, wo in der Blütezeit des britischen Imperiums Segelschiffe aus aller Welt festgemacht hatten, um Rum, Zucker und Gewürze zu entladen. Dort war er aufgewachsen. Sein Vater hatte noch in den Docks gearbeitet. Das war lange her. Heute gab es in Millwall nur noch Arbeit für dynamische, junge Männer in Anzug und Krawatte. Schon lange legten hier keine Schiffe mehr an; stattdessen zierten Bürotürme und exklusive Eigentumswohnungen die ehemaligen Docklands.
    Gary blieb vor dem Geländer stehen und starrte hinüber ans andere Ufer. Das Millwall, in dem er aufgewachsen war, existierte nur noch in seiner Erinnerung. Als Kind hatte er oft dort drüben gestanden, nach Greenwich hinüber gesehen und das Royal Naval College bestaunt, den Ort, an dem früher die britischen Seefahrer ausgebildet wurden. Er hatte davon geträumt zur See zu fahren, ein Held zu werden, so wie Lord Nelson. Aber in Greenwich wurden keine Helden mehr ausgebildet. Die Gebäude des Royal Naval College beherbergten heute eine Universität und eine Musikhochschule. Doch sie waren noch immer respekteinflößend und erinnerten mit stiller, an einigen Stellen ein wenig abblätternder Würde an Englands große Vergangenheit.
    Gary schlug den kleinen Weg ein, der am Ufer entlang führte. Die Kälte schnitt ihm in die Haut, und sein Atem stand wie eine Eiswolke vor seinem Gesicht. Eine Möwe schrie. Das Meer war nicht weit. Man konnte sogar den Gezeitenwechsel am Stand der Themse erkennen. Es war Ebbe. Unterhalb des Uferweges befand sich ein schmaler Sandstreifen, ein winziger Strand, der immer nur in den Stunden existierte, in denen das Wasser niedrig stand.
    Gary stellte resigniert fest, dass die Flut wieder einmal allerhand Müll angeschwemmt hatte. Ein paar Bierdosen, ein alter Lederstiefel und eine weiße Plastiktüte lagen auf dem glatten, reifüberzogenen Untergrund. Er betrachtete einen besonders dicken Haufen Dreck, der wie ein Bündel alter Kleider aussah, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Dann blieb er plötzlich stehen. Ihm stockte der Atem. Er beugte sich über das Geländer und kniff die Augen zusammen, denn er hatte seine Brille nicht dabei.
    Aus dem Gewirr aus Stoffen ragte etwas heraus, das aussah wie eine menschliche Hand.

1
    »Du träumst ja mit offenen Augen!«
    Katrin grinste ihre Freundin an, die mit selbstvergessenem Blick in das Schaufenster eines Reisebüros starrte, in dem mannshohe Fotos von schneeweißen Stränden, türkisgrünem Wasser und azurblauem Himmel verlockend der mitteleuropäischen Winterkälte trotzten.
    Roberta seufzte. »Mir ist kalt«, fasste sie ihre Träumereien zusammen. Und fügte dann pragmatisch hinzu: »Gehen wir da rein und trinken ’ne heiße Schokolade?«Sie deutete auf ein Café, dessen kleine, weihnachtlich dekorierte Tischchen eine gemütliche Wärme ausstrahlten.
    Katrin nickte. »Klingt unwiderstehlich. Meine Finger sind schon ganz steif gefroren. Wenn ich die Tüten noch weit schleppen muss, fallen sie wahrscheinlich einfach ab.«
    Demonstrativ hielt sie die Einkaufstüten verschiedener Kaufhäuser und Geschäfte hoch. Katrin hatte den Nachmittag mit ihrer Freundin Roberta in der Stadt verbracht, um für deren drei Kinder Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Da Roberta für die ganze Verwandtschaft alles mitbesorgen musste – »Roberta, Liebes, kauf du das doch für die Kleinen, ich hol doch sowieso immer das Falsche« – war der Einkauf entsprechend umfangreich ausgefallen.
    »Immerhin ist Geschenke kaufen ungefährlicher als Mörder jagen, und mehr als ein paar abgefrorene Finger riskiert man nicht«, konterte Roberta,
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