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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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einen anderen, und unser Schmerz ist wie das Wild: Er schläft niemals wirklich fest.
     
    Endlich tauchte das Hotel auf. Ein rotes Licht in der Ferne. Das Leuchtschild. Kleine fahle, matte Lämpchen entlang der Auffahrt, die zum Bunker namens »Le Home« führte. Wer hatte sich nur ausgedacht, dieses Hotel, diesen Betonklotz dorthin zu setzen, genau dorthin, mitten ins Nichts, ans Ende der Welt? Man hatte Kräne und Bagger hingebracht, der Lärm der Bauarbeiten hatte die Vögel in die Flucht geschlagen und die Baumwurzeln im Umkreis von zehn Kilometern zittern lassen, die Erde war sicher locker, gut zu bearbeitende Erde, fett, großzügig, ockerbraun, in die man Betonplatten gegossen hatte; wer war bloß auf diese Idee gekommen? Es gab bestimmt einen Konferenzraum, einen Speisesaal für die Vertreter, einen anderen für Hochzeiten – lauter schlammige Autos auf dem Parkplatz, der Saum des Brautkleids bespritzt –, wer hatte nur diesen Vertrag, wer die Baugenehmigung unterschrieben, warum dieses Hotel und warum sie in diesem Hotel?
     
    Sie bezahlte das Taxi. Nahm ihre Reisetasche. Ging hinaus in die eisige Nacht. Ihr Atem brachte kleine Rauchwölkchen hervor, die sich mit dem Nebel mischten, winzige Spuren ihres Atems in der Kälte von nirgendwo.

 
     
     
     
    D ER Z IMMERSCHLÜSSEL WAR SO klein wie ein Schlüssel für Handschellen, ein Garderobenschlüssel, ein Kofferschlüssel, ein winziges Stück Metall ohne Substanz für eine Tür ohne Bedeutung, dünn, allzu leicht zu öffnen, ein Hotel wie ein Kartenhaus, das beim ersten Erdbeben einstürzen würde, ein Haufen von zersplitterten Türen, zu Staub zerfallenen Wänden auf der lockeren ockerbraunen Erde. Sie trat ein und wurde natürlich nicht überrascht. Als Modell war das Zimmer wahrscheinlich lustig gewesen. Der Architekt hatte sich bestimmt über die hübsche Miniatur mit einem so guten Preis-Leistungs-Verhältnis gefreut. Ramsch. Imitation. Falsches Holz und echtes Sperrholz, Neon, der Fernseher hing blödsinnig in einer Ecke unter der Zimmerdecke und an der Wand natürlich die unvermeidliche Reproduktion eines Herbstgemäldes, Würde des Jägers, Sprung der Hirschkuh und mit roter Sonne bekleckste Bäume. Unwichtig. Bald würde sie die Deckenlampe ausschalten, sich unter der Decke verkriechen, mit Patrick sprechen.
    Die Erregung trieb ihr Tränen in die Augen, die Lust, das Verlangen, die Liebesworte zu sagen, Mein Herz, Mein Herz, Mein Herz, geflüstert, warm, müde, flehend, Mein Herz, Mein Herz, Mein Herz, wie du mir fehlst.
     
    Das Zimmer war eisig, sie drehte die Heizung ganz auf, suchte im Schrank nach einer zweiten Decke, einem dritten Kopfkissen, aber der Schrank war leer. Sie sah sich nach einem Regal, einer Kommode um, aber es gab keine anderen Möbel, und als sie einsah, dass sie in Pullover und Socken würde schlafen müssen, verfluchte sie sich selbst, verfluchte sich, weil sie dieses Wochenende auf der Messe von R. angenommen hatte, ohne sich nach der Unterbringung zu erkundigen, verfluchte sich für ihre Unfähigkeit zu fordern, für ihre geringen Ansprüche.
     
    Mein Herz.
     
    Abschminken im winzigen Badezimmer, Marmorimitat und blauer Plastikduschvorhang.
     
    Mein Herz, sag mir, dass es lange, zu lange war, diese zehn Tage ohne mich, ohne mich zu sehen, mich zu berühren, mit mir zu sprechen, ich habe dir gefehlt, sag es noch einmal, beschreib es, ich habe dir nachts gefehlt, mein Kopf an deinem Rücken, mein Mund an deiner Haut, unsere Beine ineinander verschlungen, ich habe dir am Morgen gefehlt, das Erwachen, die Freude des anbrechenden Tages, wenn man glücklich feststellt, dass man die Nacht beieinander verbracht hat, wenn man sich erinnert, dass man miteinander geschlafen hat, im Dunkeln, in der Tiefe der Nacht …
     
    Sie sah sich in dem kleinen Spiegel an, im erbarmungslosen Licht, die Wahrheit ihres Gesichtes, nackt, ungeschminkt, müde, schenkte sich ein falsches Lächeln, ein Lächeln, das noch gezwungener war als das, was sie den ganzen Tag für die Unbekannten aufgesetzt hatte, die ihre Bücher kauften, für die Unbekannten, die sie nicht kauften, für die traurig Vorbeigehenden, für die unaufmerksamen Familien, für die Lokalfotografen, für die abgestumpften Einsamen, ein maßloses Lächeln, um ihr Gesicht zu entstellen, es ein für alle Mal hässlich zu machen, Schluss mit der Heuchelei ihres liebenswürdigen und gleichgültigen Lächelns.
     
    Mein Herz! Mein Herz! Mein Herz! Du weißt nichts von meiner
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