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Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Titel: Messias-Maschine: Roman (German Edition)
Autoren: Chris Beckett
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Kapitel 1
    V ielleicht sollte ich diese Geschichte damit beginnen, wie ich in Gesellschaft einer wunderschönen Frau über die Grenze geflohen bin. Oder ich fange mit einem Bild von mir selbst an, wie ich in einem kleinen Herbergszimmer in Griechenland Stücke menschlichen Gewebes einsammle, sie hustend und würgend in ein Hemd wickle und in meinen Koffer stopfe. (Das war zweifellos ein Wendepunkt.) Andererseits wäre es vielleicht besser, mit etwas Spektakulärerem, einer Szene im Breitwandformat zu beginnen: wie zum Beispiel mit der Maschine selbst, dem Roboter-Messias, der in Tirana den Gläubigen predigt, und mit den Zehntausenden, die an seinen Lippen hängen.
    Nein, ich glaube, ich fange lieber mit einer Sommernacht an, als ich gerade 22 Jahre alt war. (Das bin ich, mit 22, wie ich draußen auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnung in Illyria City stehe, mit der Aktentasche unterm Arm …) Damals wusste ich es noch nicht, aber in jener Nacht nahm meine seltsame Reise ihren Anfang.
    Ich hatte bis spät abends im Büro gearbeitet, für eine Firma namens Wort für Wort. Ich war Übersetzer und verdiente mein Geld damit, bei den zahlreichen geschäftlichen Transaktionen zu dolmetschen, die zwischen unserem außergewöhnlichen Stadtstaat auf dem Balkan und den umliegenden, feindseligen, aber verarmten Gebieten stattfanden. (Im Umkreis von zweihundert Kilometern wurden sieben verschiedene Sprachen gesprochen – und mindestens ebenso viele Religionen wurden mit Hingabe praktiziert, von denen jede einzelne für sich in Anspruch nahm, die endgültige und buchstäbliche Wahrheit über die Welt zu verkünden.) Man kam in den Genuss einiger Vorzüge, wenn man so viele Überstunden machte wie ich, aber der eigentliche Grund für meine ausgedehnten Arbeitszeiten bestand darin, dass ich sonst nichts zu tun hatte. Selbst das nächtliche Büro fühlte sich heimeliger an als die triste Wohnung, die ich mit Ruth teilte.
    Ruth war meine Mutter. Ich nannte sie seit jeher Ruth. Die Vorstellung, Mutter zu sein, hat ihr nie gefallen. Ich wurde versehentlich auf einem Boot voller verängstigter Flüchtlinge gezeugt, die den Michigansee überquerten. Meine Eltern kannten einander nicht einmal, aber bei dieser einen Gelegenheit klammerten sie sich auf der Suche nach Trost aneinander fest. Ich glaube, das war der einzige Sexualkontakt, den Ruth im Erwachsenenalter jemals hatte.
    »Ruth?«, rief ich, während ich die Tür öffnete.
    Doch wie immer antwortete sie nicht, weil sie in ihrem SenSpace-Anzug hing und zuckend wie eine Marionette ihre elektronische Traumwelt durchstreifte. Wenn sie nicht gerade schlief oder arbeitete, schien sie praktisch nichts anderes mehr zu tun. Allmählich wurde sie ziemlich dünn, stellte ich nüchtern fest, als ich einen Blick in den SenSpace-Raum warf und sie im Drahtgeflecht zappeln sah. SenSpace-Nahrung mochte gut aussehen und sogar gut schmecken – kürzlich hatte man eine Möglichkeit gefunden, selbst Geruchswahrnehmungen zu projizieren –, aber den Magen füllte sie einem nicht.
    Ich ließ mir von unserem Hausdiener, einem alten X3 namens Charlie, den wir schon seit meinen Kindertagen hatten, etwas zu essen und ein Bier bringen. Duldsam rollte er auf seinen Gummireifen in die Küche. (Es wurde immer schwieriger, ihn reparieren zu lassen, aber wir behielten ihn trotzdem. Er gehörte zur Familie, vielleicht war er sogar ihr meistgeliebtes Mitglied.) Während er mir das Essen warm machte, trat ich mit meinem Bier auf den Balkon. Wir befanden uns im fünfzigsten Stock und hatten eine hübsche Aussicht. In einer Richtung konnte man das Meer sehen, und in der anderen ließen sich die Berge Zagoriens ausmachen. Doch direkt um uns herum war alles voller Stahl- und Glastürme. Illyria City war eine Stadt der Türme, die sich die besten Techniker und Wissenschaftler der Welt als Heimstatt errichtet hatten. Für Ruth und viele andere aus ihrer Generation war sie eine Zuflucht vor den religiösen Extremisten der Reaktion.
    Ich bin damals sehr einsam gewesen. Ich beherrschte acht Sprachen fließend, aber ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, und nichts zu erzählen. Ich wusste nicht, wie man es anstellte, Teil dieser Welt zu sein. Was Ruth anging: Sie wollte eigentlich überhaupt nichts sein. Wir waren beide Geschöpfe unserer Angst. Dort oben in den Stahlschluchten unserer Stadt versuchte ich, mir von den kleinen Lichtern anderer Wohnungen, die über den Abgrund zu mir herüberschienen, das
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