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Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman

Titel: Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman
Autoren: Aufbau
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1
    Im Nachhinein wäre es besser gewesen, meine Frau hätte mich zu Hause Meet The Press sehen lassen, anstatt darauf zu bestehen, dass ich mich durch die ganze Stadt schleppte, nur um Jim Wallace beim Sterben zuzusehen.
    Ich kannte Jim seit dem Militärdienst, aber ein richtiger Freund war er nicht. Als Rose mich beim Fernsehen unterbrach, um mir mitzuteilen, dass sie soeben einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen habe, Wallace auf der Intensivstation liege und nach mir verlangt habe, sagte ich nur, bei seinem Begräbnis bliebe mir doch genug Zeit, ihn zu treffen.
    »Du musst ihn besuchen, Buck. Du darfst einem Sterbenden nicht den letzten Wunsch abschlagen.«
    »Wenn du wüsstest, Darling, was ich alles missachte. Missachtung hat bei mir nämlich Tradition.«
    Ich gab mich geschlagen, aber wenigstens erst nachdem ich pro forma meinen Einspruch losgeworden war. Es hatte keinen Sinn, sich mit Rose anzulegen. Nach vierundsechzig Ehejahren kannte sie alle meine Schwachstellen.
    Jim lag im MED in der Stadt, und das war mir einfach zu weit, um selbst zu fahren. Es wurde immer schwieriger, sich daran zu erinnern, wo sich welche Orte befanden und wie sie miteinander zusammenhingen. Daher schrumpfte meine Welt allmählich, ein immer enger werdender Kreis, in dessen Mittelpunkt sich unser Haus befand. Doch die Ausrede zog nicht: Emily, Wallace’ Tochter, erbot sich, vorbeizukommen und mich abzuholen, obgleich ich sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
    »Haben Sie vielen Dank für Ihre Mühe, Mister Schatz«, sagte sie, als sie ihren Wagen rückwärts aus meiner Auffahrt lenkte. »Ich weiß, es muss Ihnen abwegig vorkommen, dass Daddy nach Ihnen verlangt, aber sein Ende ist nahe, und man hat ihn mit allerhand Zeug vollgepumpt, gegen die Entzündung und die Schmerzen und natürlich für sein Herz. Er verliert sich immer mehr in der Vergangenheit.«
    Sie war ein paar Jahre jenseits der Fünfzig, schätzte ich; das Fleisch um ihre Kinnpartie wurde allmählich schlaff. Sie trug einen Trainingsanzug, war ungeschminkt und sah aus, als habe sie schon lange keinen Schlaf mehr bekommen.
    »Er ist nicht immer ganz bei sich, und manchmal, wenn er mich ansieht, bin ich nicht sicher, ob er überhaupt weiß, wer ich bin.« Sie unterdrückte ein Schluchzen.
    Da schien ja ein berauschender Vormittag auf mich zuzukommen. Ich stieß einen Grunzlaut aus, der meiner Meinung nach auch als Ausdruck der Anteilnahme hätte ausgelegt werden können, und war schon dabei, mir eine Zigarette anzustecken.
    Sie verzog das Gesicht. »Macht es Ihnen etwas aus, in meinem Wagen nicht zu rauchen?«
    Das machte es, aber ich ließ es gut sein.
    Krankenhausbesuche sind zum Kotzen. Ich wusste schon beim Eintreten, dass man mich nicht rauchen lassen würde, und obendrein hatte ich stets Angst, man werde versuchen, mich dazubehalten. Ich war siebenundachtzig Jahre alt und kaufte meine Lucky Strike immer noch stangenweise, und daher erwarteten alle, dass ich jeden Moment den Löffel abgeben würde.
    Jim Wallace lag auf der geriatrischen Intensivstation, einem weißen Korridor voll gefilterter Luft und ernst blickender Menschen. Trotz aller Bemühungen des Personals, die Station keimfrei zu halten, stank es nach Urin und Tod. Emily führte mich in Jims Zimmer. Die Glastür glitt hinter uns zu und rastete mit einem leisen Klicken ein. Norris Feely, Emilys übergewichtiger Ehemann, saß auf einem Plastikstuhl und stierte auf die GameShows, die über die Mattscheibe des Fernsehers flimmerten, der oberhalb des Betts installiert war. Mir kam kurz in den Sinn, darum zu bitten, auf mein Talkshow-Programm umzuschalten, aber ich wollte bei niemandem den Eindruck erwecken, dass ich etwa einen längeren Aufenthalt im Sinn hatte.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Schatz«, sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. »Pop hat uns viel von Ihnen erzählt.« Er streckte die Hand aus. Ich schüttelte sie. Seine feisten Finger waren feucht, und auf seinen Knöcheln spross mehr Haar als auf seinem Kopf, aber seine Nägel waren manikürt und mit farblosem Nagellack bepinselt, so dass sie wie kleine rosa Strass-Steinchen wirkten, die man auf unförmige behaarte Würstchen appliziert hatte.
    Eine schwache Stimme vom Bett her: »Buck? Buck Schatz?« Wallace hing am Tropf, war an einen Herzmonitor angeschlossen und an ein Gerät, das meiner Meinung nach eine Dialysemaschine hätte sein können. Ein Schlauch führte in seine Nase. Seine Haut war wächsern gelb, und das
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