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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft
Autoren: Véronique Olmi
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man ihr auch geben oder verweigern mag … wie kann man davon genesen?
     
    Hélène fuhr auf dieser Autobahn, weil das der Weg war. Sie folgte den Hinweisschildern, sie gehorchte der Zeit, die sie ans Ziel führte, einem Reflex, wie ein hungriges Pferdchen, ab und zu tauchten Bilder auf, und sie konnte sie nicht mehr entschlüsseln. Sie und Patrick, eine Geschichte, zwei Wirklichkeiten und keine Gewissheit und keine Wahrheit, niemals. Nicht mal eine gemeinsame Erinnerung. Nichts.
     
    Sie fuhr. Sie blieb an den Mautstellen, an Stoppschildern, an roten Ampeln stehen, an den Hindernissen, die immer häufiger wurden, als nun Robert Berlins schlammbespritztes Auto Paris erreichte.

 
     
     
     
    U ND JETZT WAR SIE ANGEKOMMEN .
    Da wohnte er.
    Diese Straße kannte ihn.
    Er war der Bewohner dieser Straße.
    Dieser Hausnummer, dieser Stadt.
    Sie war vor den geschlossenen Fensterläden angekommen.
    Sie würde ihn herausholen.
    Er sollte herunterkommen. Sollte sich erklären. Sollte noch mal lachen, allein. Er, der vorher nur mit ihr gelacht hatte. Unbändiges Gekicher von allen beiden. Gemeinsames Lachen, weil sie beide so gern Unsinn erzählten. Komische Stimmen nachahmten. Sich übereinander lustig machten, wie es nur zwei können, die sich durch und durch kennen. Sie allein verstanden die Geheimcodes ihres Lachens, manchmal lachten sie auch lautlos, sie wiesen einander mit einem Blick auf jemanden hin und wussten sofort, was an ihm unpassend, nur für sie beide komisch war, und sie wandten sich ab, um nicht dem Blick des anderen zu begegnen und herauszuplatzen – aber zusammen und geräuschlos explodierten sie.
    Sie waren fröhlich zusammen. Freuten sich über alles, denn außer ihnen war alles unwichtig, und das Leben ringsum hatte nur eine untergeordnete Funktion, deshalb konnten sie nicht traurig darüber sein, niemals. Sie lachten aus Freude, zusammenzusein, wie man lacht, wenn man eine gute Nachricht erhält, denn sie teilten die wunderbare Überraschung: Sie liebten sich. Sie wollten es. Sie glaubten daran.
    Und jetzt würde sich der Mann mit der nackten Haut hinter den Fensterläden anziehen und zu ihr kommen. Und sie würden nicht bezaubert sein, am frühen Morgen zusammenzukommen. Sie würden verlegen sein und sich unbehaglich fühlen. Aber sie wollte, dass er sich anzog und kam. Mit seiner Müdigkeit, seinem Ausweichen, seiner Abwehr. Und seiner Panik, sie in der Verbotenen Stadt zu wissen. Dem legitimen Territorium. Sie war die Illegitime. Sie gehörte allen und keinem, wie immer. Ein bisschen rechts, ein bisschen links, wie immer.
     
    Sie verließ die Straße, fuhr in das nahe Wäldchen und parkte das Auto.
    Sie war ruhig. Und unendlich traurig. Sie lehnte sich gegen die Fahrertür und sah auf den Bois de Boulogne, seine weit auseinanderstehenden Bäume, seine zahlreichen Wege, die Stunde der Transvestiten und der bezahlten Orgasmen war vorbei, gerade begann die Stunde der Sportler, sie rannten lautlos und elegant wie Elfen, Hélène sah sie auftauchen und voller Leichtigkeit hinter den Hinweistafeln für Pferderennbahn, Botanischen Garten und Pont de Sèvres verschwinden. Der Park schwankte zwischen Natur und Stadt, war weder wild noch wirklich kultiviert, nach den Bedürfnissen des Menschen, seinem Raumbedarf und seiner Furcht vor dem Ungezähmten geformt, man wechselte so leicht vom Moos auf den Asphalt, vom zugefrorenen Fluss auf die frisch gestrichenen Bänke, es war ein gezähmter Wald, der niemanden überraschte.
    Ihr war kalt. Sie war allein. Der Himmel war weiß, vergessen von der Sonne und ihrem Widerschein, ein anonymer Himmel ohne Vorzeichen, es war ein braver, zivilisierter Morgen, eine vernünftige Zeit, und das Fehlen der Angst nützte ihr nichts, denn hier zu kämpfen wäre vergeblich gewesen. Es gab weder Freund noch Feind, keinen Gegner nach ihrem Maß, keine Liebe nach ihrer Maßlosigkeit.
    Sie öffnete die Beifahrertür, nahm das nach Nikotin stinkende Handy aus dem Handschuhfach, wischte es mit dem Ärmel ab, und endlich begann ihr Herz schneller zu schlagen, wurde wieder die kleine Fackel in ihrer Brust, der Pulsschlag ihrer Gefühle, endlich ein tiefer Rhythmus, ein Trommelschlag, eine gespannte Haut, auf die die Handfläche schlug, um den Tagesanbruch zu verkünden, während sie Patricks Nummer wählte, und in ihrem Bauch packte sie die Krabbe mit ihren langen Scheren, und der Kopf schmerzte, die Finger zögerten, wie ausgerenkt am Ende ihrer Arme … Endlich eine Gefahr, endlich
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