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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern. Normalerweise lag in dieser Jahreszeit ein Duft von blühenden Akazien über dem sozialistischen Teil des nordeuropäischen Landes.
    Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts.
    Da gab es weder Fußbodenheizungen noch isolierte Fenster oder einladende Kamine; die Einwohner der kleinen Stadt froren, sie waren schlecht gelaunt und hatten steife Finger. Fast meinte man den Kalten Krieg zu spüren. Die Anhänger des sozialistischen und die Anhänger des kapitalistischen Systems kämpften, so war zu hören, um die Weltherrschaft, Genaueres über den Ausgang stand noch nicht fest, und es beeinflusste das Leben der Menschen in ihrer kleinen Stadt nur geringfügig. Die im Sozialismus lebten, kannten nichts anderes; sie waren an die leeren Regale gewöhnt, an den Kohl, die eine Sorte Äpfel und an den Rhabarber im Sommer. Die Welt war damals klein und nicht sehr beängstigend, sie war überschaubar und reichte bis zur Stadtgrenze. Es war das Leben vor dem Internet und den Medien, es gab nur die Tageszeitung, und Journalisten trugen zerknitterte Anzüge. Die Welt gehörte den Männern, und hier, im Ostteil des in Gut und Böse geteilten Landes, wunderte sich darüber keiner. Farbige gab es nur in Afrika und in Büchern, man musste ausschließlich das begreifen, was in der kleinen Stadt, im kleinen Land passierte, und das war wenig, es stand in der Tageszeitung. Ein Werk wurde eingeweiht, ein Fünfjahresplan erfüllt, der Nachbar bekam einen sehr kleinen, aus Presspappe gefertigten Personenwagen, auf den hatte er zehn Jahre gewartet, mit dem fuhr er in die Kreisstadt, da gab es Schokomilch. Waren sie sensibel, die Menschen, dann mochten sie mitunter ein wenig schwerer atmend auf ihre grauen Straßen schauen, nicht wissend, dass sie die Farbe vermissten oder die erfreulichen Vorteile des Konsumierens, und sie wurden von einer fast ohnmächtig machenden Langeweile befallen. So, das ist es nun, für immer, mochten sie sich sagen, die Sensiblen, das also ist mein Leben, es scheint ja nichts Besonderes zu werden.

1966–2000.

Und los.
    Tausende hab ich hier gehabt, keine hat sich so albern betragen, sagte die Hebamme. Betragen, das sagte sie extra, sie liebte Worte der alten Schule.
    Sie sah die Frau, die vor ihr lag, dabei nicht an, sondern betrachtete ihre Hände, die in Plastikhandschuhen steckten. Sie war vernarrt in ihre Hände. Sehen Sie, das sind Hände, die zupacken können, erklärte sie den jungen Hebammenschülerinnen, die daraufhin die Köpfe hängen ließen, denn über solch beeindruckende Fleisch-Schaufeln wie ihre Vorgesetzte verfügte keine.
    Die Hebamme hatte Generationen von jungen Müttern traumatisiert. Viele würden ihre Kinder nie mehr ansehen können, ohne dabei nervös mit dem Augenlid zu zucken.
    Die Gebärende zuckte unkontrolliert mit dem Augenlid. Sollte dieses Baby irgendeine auffällige Fehlentwicklung haben, liegt es an mir und meiner mangelnden Bereitschaft zu pressen, wusste die nicht mehr junge Frau, deren Beine an einen gynäkologischen Stuhl geschnallt waren. Das Metall war so kalt, dass sie sich nur noch auf eines konzentrieren konnte: auf die Kälte, die von ihren Beinen auf den Körper übergriff. Etwas Furchtbares würde mit ihrem Kind geschehen; das alles, der kalte Sommer, die Schmerzen, war eine Strafe, weil sie eine Schlampe war.
    Was für eine Schlampe! dachte die Hebamme. Kein Mann wartet auf dem Flur, die Unterwäsche nicht sauber, die Adern an der Nase geplatzt, die Sorte kannte sie. Die Hebamme hatte kein Mitleid mit den Frauen. Empfände ich Mitleid, würde ich diesen Beruf nicht korrekt ausführen, sagte sie mitunter, ungefragt, denn sie war keine, von der irgendwer etwas wissen wollte. Unklar, ob ihre Unattraktivität sie hatte so grob werden lassen oder ob die Sache genau andersherum funktionierte. In dem kleinen kommunistischen Land schenkte man den psychischen Finessen der Menschen nur wenig Aufmerksamkeit.
    Was hier als Kommunismus praktiziert wurde, kam dem ruppigen Wesen der Hebamme sehr entgegen. Sie verachtete Freude und Ablenkung. Man hätte ihren Lebensentwurf zenbuddhistisch nennen können, aber diese Art von designten Religionsadaptionen wird erst später Einzug halten, in die bürgerliche Mitte des Westens.
    Die Hebamme lebte zur Untermiete. Im Zimmer stand eine Kochplatte, durch einen braunen Vorhang verborgen, ein großer Schrank wie ein toter Wal im Raum, nichts, worauf
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