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Traeume, zart wie Seide

Traeume, zart wie Seide

Titel: Traeume, zart wie Seide
Autoren: Jessica Bird
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1. KAPITEL
    „Halt jetzt still, sonst piekse ich dich noch“, sagte Joy Moorehouse zu ihrer Schwester Frankie.
    „Ich habe mich doch gar nicht bewegt.“
    „Sag das mal dem Saum hier.“ Joy hockte sich auf die Fersen und überprüfte ihre Arbeit. Das Hochzeitskleid aus weißem Satin wirkte an ihrer Schwester trotz seiner Schlichtheit elegant. Joy hatte sich mit dem Design besondere Mühe gegeben, weil sie Frankie genau kannte – Spitzen, Rüschen und Pailletten waren nicht ihr Ding. Ohne Joys Überredungskunst hätte Frankie in Jeans geheiratet.
    „Sehe ich nicht zu verkleidet aus?“, fragte Frankie prompt.
    „Du siehst wunderschön aus.“
    Frankie lachte gutmütig. „Du bist die Familienschönheit, nicht ich.“
    „Aber du heiratest nun mal, also ziehst du auch das Kleid an.“
    Kopfschüttelnd sah Frankie an sich hinunter. „Ich kann es immer noch nicht ganz glauben.“
    „Ich freue mich so für dich!“, sagte Joy strahlend.
    Vorsichtig hob Frankie den langen Rock an. „Ich muss zugeben, es trägt sich toll“, bemerkte sie.
    „Wenn ich die Änderungen gemacht habe, wird es sogar noch besser sitzen. Jetzt kannst du es erst mal ausziehen.“
    „Sind wir fertig?“
    Joy nickte und stand auf. „Ich habe den Saum abgesteckt und nähe ihn heute Abend um. Morgen machen wir dann die nächste Anprobe.“
    „Aber du wolltest uns doch heute Abend beim Catering für Mr. Bennetts Geburtstagsfeier aushelfen. Das hast du doch nicht vergessen?“
    Joy schüttelte den Kopf. Vergessen? Nein, niemals. Wie konnte sie vergessen, wen sie in ein paar Stunden sehen würde?
    „Wir brauchen dich wirklich“, setzte Frankie etwas besorgt hinzu.
    Mit gesenktem Kopf packte Joy ihr Nähzeug zusammen und hoffte, dass Frankie ihr nicht ansah, wie aufgeregt sie in Wirklichkeit war. „Weiß ich doch“, sagte sie so gelassen wie möglich. „Keine Sorge.“
    „Aber es kann spät werden. Da willst du doch hinterher nicht noch nähen?“
    Warum nicht? Schlafen konnte sie danach sowieso nicht.
    „Ich will nicht, dass du dir wegen des Kleides die Nächte um die Ohren schlägst“, fuhr Frankie fort.
    „Erstens heiratest du nur einmal und zweitens schon in sechs Wochen“, erwiderte Joy, die ihrer Schwester den Rücken zuwandte. „Wenn du also nicht im Unterhemd vor den Altar treten willst, sollte das Kleid schon bis dahin fertig werden. Du weißt, wie viel Spaß mir das Nähen macht – besonders für dich.“
    Als sie sich umdrehte, sah sie Frankie nachdenklich aus dem Fenster starren. „Was ist denn los?“, fragte sie erschrocken.
    „Ich habe Alex gestern Abend gefragt, ob er mich zum Altar führt.“
    „Und, was hat er gesagt?“, flüsterte Joy hoffnungsvoll, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte. Bei Alex’ gegenwärtigem Gemütszustand konnten sie schon froh sein, wenn er überhaupt zur Hochzeit kam. Ihr Bruder war Regattasegler und hatte bei einem Bootsunfall vor sechs Wochen seinen Segelpartner Reese Cutler verloren. Er selbst hatte sich das Bein so kompliziert gebrochen, dass schon mehrere Operationen nötig gewesen waren.
    „Er macht es nicht“, antwortete Frankie leise. „Ich glaube, er will nicht im Rampenlicht stehen.“ Sie seufzte. „Ich kann ihn nicht zwingen, es zu tun. Aber ich wünschte wirklich … verdammt, ich wünschte, Dad könnte dabei sein. Und Mom natürlich. Ich vermisse sie so sehr.“
    Joy nahm die Hand ihrer Schwester und drückte sie. „Ich auch.“
    Wieder blickte Frankie an sich hinunter und lachte etwas zittrig. Joy wusste schon, dass sie damit das Thema wechselte. „Das ist unglaublich“, sagte Frankie tatsächlich.
    „Was denn?“
    „Das Kleid ist so toll, dass ich es gar nicht wieder ausziehen mag.“
    Mit traurigem Lächeln öffnete Joy die Knöpfe im Rücken. Das Hochzeitskleid zu nähen war ein so kleiner Dienst verglichen mit all dem, was Frankie für sie getan hatte. Wie viele Opfer hatte sie gebracht, um Joy die viel zu früh verstorbenen Eltern zu ersetzen!
    Als Frankie schließlich vorsichtig aus der Satinwolke stieg, hob Joy das Kleid auf und legte es auf ihren Nähtisch. Die Geschwister bewohnten den ehemaligen Dienstbotenflügel des Herrenhauses White Caps, und ihre Zimmer waren klein und schlicht. Zwischen Bett, Nähtisch und Schneiderpuppe hatte außer einer Kommode kaum noch etwas Platz, aber Joy hätte lieber auf dem Boden geschlafen, als das Nähen aufzugeben.
    Schon seit vielen Jahren flickte sie für ihre Großmutter die eleganten Abendkleider, die
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