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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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musste, denn dafür sind sie ja gemacht, die Riten und geregelten Abläufe, als lebenserhaltende Maßnahmen. Sie trank ihren Kaffee, fütterte das Kind, packte es, zusammen mit Windeln und drei fertig zubereiteten Klumpengetränkflaschen, in einen Rucksack und machte sich auf den Weg zur Arbeit, fuhr über Landstraßen, in kleine Dörfer ihres Zuständigkeits-Kreises, um dort alte Menschen zu besuchen, die in Häusern vegetierten, welche man andernorts als Ruinen bezeichnet hätte.
    Die Dörfer des sozialistischen Landes wirkten aus der Entfernung wie die auf Bildern holländischer Impressionisten, es fachwerkte und rauchte, dass es einem Romantiker Schauer über den Rücken jagen wollte.
    Bei näherer Betrachtung waren die Dörfer aber nicht mehr als Verwahreinrichtungen für gestrandete Asoziale. Mit einem Konsum, der Rot- und Weißkohl verkaufte, zwei Stunden täglich. Die Häuser, die sich bis auf das Stroh von ihrem Putz befreit hatten, lagen da mit undichten Fenstern, teils zerbrochen und durch Pappe ersetzt, in den dunklen Stuben Eisenöfen und natürlich keine Kohle. Warum auch, es war ja Sommer. Sie hatten kein Holz, um den Herd anzufeuern, die Rentner, oder um Wasser heiß zu machen, für einen Kaffee. Wozu auch, der Kaffee war ohne Wodka ungenießbar, und Wodka konnte man auch unerhitzt zu sich nehmen. Der Sozialismus hatte die Alten vergessen, sie taugten nur für schwarzweiße Fotos in der Zeitung, denn falls einer mal den hundertsten Geburtstag erleben sollte, war immer auch ein Parteivorsitzender mit Nelkenstrauß zur Stelle.
    Der reale Sozialismus schien wie eine Architektenzeichnung. Neubauten, auf deren Vorplätzen Figuren im Schatten von Bäumen schlendern. Die gebaute Wirklichkeit waren dann trotzdem immer nur Verwahrungsboxen mit zugigen, menschenleeren Plätzen. Der glückliche Volkskörper wollte sich nicht einstellen, warum denn nicht, verdammt noch mal. Sie waren alle betrogen worden, um den Westen, um den Joghurt, und die kollektive kommunistische Verzückung ließ auf sich warten. Die schönen Bilder von lachenden jungen Menschen auf Traktoren, paarungsbereit und mit gesunden Erbanlagen, unsere liebe LPG, und was war da geworden: einstürzende Altbauten mit schlechtriechenden Suchtkranken darin.
    Hast du dich wieder nicht auf die Toilette getraut, fragte die Frau einen alten Mann, dessen Holzboden mit zerknülltem Zeitungspapier bedeckt war. Es ist doch so kalt, sagte der Mann, und von unten werden sie kommen und mich in den Hintern beißen. Ja, sagte die Frau, das passiert. Alles Böse kommt von unten, sagte sie und sah einem Reflex folgend zu Boden, da lag ihr Kind und schwieg. Es schien zu träumen. Kann es träumen, da sind ja noch keine Bilder vorhanden, die zusammengesetzt werden können. Träumen Babys so wie Hunde, die Hasen hinterherlaufen? Und denken Hunde im Traum: Mann, ein Hase, dem setz ich jetzt mal nach? Im Vergleich zu Affen, Oktopussen und Gemüsesorten schneiden Babys im Intelligenztest schlecht ab; setzt man eines neben einen Primaten, sind sie nicht in der Lage, Bananen von Bleistiften zu unterscheiden. Dass Menschen, auch ausgewachsene, zu nicht viel mehr imstande sind, als den Ort, an dem sie sich aufhalten, mit Kot zu beschmieren, ist ein trauriger Umstand. Die Frau fegte das Zeitungspapier vom Boden des Rentners. Ihr Kind lag schweigend und beobachtete den alten Mann. Dein Kind schaut mich an. Sagte der, und begann zu zittern, wegen der Kälte und weil er noch nicht betrunken genug war. Ja, es schaut immerzu. Es sagt nichts, es schreit nicht, es scheint sich zu schämen, wenn ich seine Windeln wechsle, unter uns, mir graust ein wenig vor dem Kind, hast du was zu trinken. Sagte die Frau, und dann saß sie mit dem Rentner, trank von dem Alkohol, den einer im Dorf schwarz gebrannt hatte, und betrachtete ihre Zukunft. Wenn kein Wunder geschieht, werd ich irgendwann so ähnlich enden wie der alte Mann, und das war wirklich keine Aussicht, die man mit Bocksprüngen feiern möchte.
    Vor dem Krieg war der Alte Bauer gewesen. Ein paar Hektar Land, diverse Tiere, die Eltern im Nebengebäude, schwere Arbeit, rauhe Hände, Krieg verloren, schade. Denn danach wurden alle im Dorf enteignet, das nannte nur keiner so. Das Land wurde verstaatlicht, Landwirtschaftliche Produktionsstätten entstanden, wo alle bei schlechter Bezahlung arbeiteten, wie früher nur die Knechte. Wie Knechte, sagten die Bauern und spuckten auf den Boden, denn Bauern ohne Land, das geht nicht auf, da
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