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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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können. Mund und Kopf füllten sich mit feuchter Watte. Einen Schluck brauchte sie, oder ein Bett. Und irgendwen brauchte sie, aber nicht dieses Kind, das da an ihr hing. Neben der Klarheit, die sich einstellte, kam diese abgrundtiefe Langeweile, die nur Menschen kennen, die nicht in sich vorhanden sind.
    Die Frau hockte am Wegesrand, starrte die Apfelbäume an, den wilden Kerbel, den Mohn. Keine Mitteilung.
    Da ist doch kein Anreiz, dem Alkohol zu entkommen, der sich wie eine beige Decke über die Umgebung legt. Die farblosen Menschen, die in ihren Plastikkleidern über die Straßen schlingern, die genormten Köpfe mit geplatzten Adern und flachsblondem dünnem Haar, diese teigigen, traurigen Kinderköpfe mit den wässrigen Augen, wie leere Teiche. Das hält doch keiner aus.
    Bevor die Frau begann, sich mit Tränen zu betrauern, kam ihr ein Moment des kurzen Träumens, in dem sie sah, wie es sein könnte: Eine Wiege und gemalte Wolken an der Decke, eine Spieluhr und sie, die in fließenden Gewändern innig mit ihrem Kind auf dem Arm durch eine Wohnung schreitet, auf weißgestrichenen Fußböden. Und dann war der Moment vorüber, die Idee von einem Gefühl verschwunden, übrig nur das Bündel, das sie wahnsinnig machte mit seinem Blick, die können doch so nicht schauen, diese verdammten Babys, so, als ob sie einen verachten. Das war eine fixe Idee von ihr geworden, die Augen des Babys, die sie überallhin verfolgten, auch in der Nacht, in der Kneipe, wo sie saß, umringt von Männern, die Kohleträger waren oder Nachtwächter, aber meist invalid, und asozial waren sie alle, und sie tranken der Frau zu, die sie im normalen Leben nie hätten berühren dürfen, und die löste sich auf in Spiritus, und jeder konnte einmal hinlangen.
    Immerwährend wurde sie beobachtet von den Augen dieses Nichts, das sie mit sich herumtrug, das sie neben sich legte, dessen Ausscheidungen sie entfernte; es wendete sich ihr nicht einmal zu, nicht jetzt, hier, unter dem Baum, wo sie saß, zu müde für das Leben, und nicht daheim, wenn sie sich wusch, den Kohlenträger abwusch oder den Hausmeister, dann sah es sie an, und sie meinte, eine Wertung in seinem Blick zu erkennen.
    Ich hasse dich, murmelte sie, und das Kind sah sie an, mit einem Blick wie ein Hund, wenn man ihn vor die Tür stellt. Sie verachtete das Kind, weil es bei ihr war, an dem Ort, den sie so hasste. Je zufriedener das Baby wirkte, desto mehr knuffte sie es in die Seiten, um es ihm unbehaglich zu machen, um es zur Abreise zu bewegen, mit seinen albernen Windeln unterm Arm, mit seinem merkwürdigen Leib, seiner Andersartigkeit, Unverwundbarkeit und Reinheit. Sie war doch so verletzt, von der großen Enttäuschung, die ihr die da draußen bereitet hatten.
    Früher hatte das Leben oft am Kopfende ihres Bettes gestanden und sanft geflüstert: Du schönes Mädchen du, ich bin bereit für dich. Dann war es verschwunden, das Leben. Zurück blieben Küchenmöbel und die Hoffnung, dass es Orte gab, die Zustände herstellen würden, anders als jene, in denen alle schwammen. Draußen hatten die fünfziger Jahre gestanden, die Spießigkeit trug ein Kopftuch, hatte eine Nelke im Knopfloch und erstickte die Jugend in Biederkeit. Irgendwo hinter den abbröckelnden Fassaden, den einzelnen Zweitaktern, den Rot- und Weißkohlköpfen in den immer dunklen Läden, dem Dederon und den Kittelschürzen, da würde ihre Zukunft nie stattfinden. Sie trug das blaue Hemd der Jugendbewegung und bekam ein Diplom und eine Stelle und war am Morgen schon so müde, dass sie die Beine kaum aus dem Bett rauszustellen vermochte. Es war ein schwieriges Leben, in dem kleinen sozialistischen Land, ohne Götter, die die Welt in Geschichten gefasst hätten. Götter, die eine übergreifende Ordnung in Millionen parallele Leben gebracht hätten und einen Sinn erzeugt. So gab es nur Gegenwart ohne jede Klammer, außer der Partei und der Aufgabe, eine Zukunft zu gestalten. Aber eine Zukunft ist doch keine Ordnung. Eine Zukunft war nichts, und kein Gott, der aus dem Nichts eine Welt geformt hätte.
    Es gab keinen Alkohol. Der Kopfschmerz ließ nach, die schlechte Laune blieb, warum nur, ihre Umgebung war unverdächtig. Sah aus wie jeder Ort in Mitteleuropa, die Apfelbäume sauber, die Straßen geteert. Und wenn es Sommer war, ab und zu war es doch Sommer, dann war dieses leichtbeschwingte Laufen auf Landstraßen wie Meditation, wenn es das Wort schon gegeben hätte, doch das meint, dass man keinen Quatsch denkt.
    Sie
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