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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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Statistik zu verzeichnen. Seit sie Leiterin der Abteilung der Drei- bis Achtjährigen war, hatte sich nur ein Kind umgebracht, zwei waren ausgerissen und fünf hatten schlechte Noten. Der Rest gliederte sich hervorragend ein in die Klassen oder Kindergartengemeinschaften. Frau Hagen hatte sich ebenfalls immer hervorragend in das System eingefügt. Sie war Pioniervorsitzende gewesen, bei der Freien Deutschen Jugend hatte sie die Blaskapelle geleitet, und sie war trotz mäßiger Intelligenz zur Erweiterten Oberschule zugelassen worden. Fast jedes System schätzt Bürger, die über eine normale Intelligenz verfügen. Verformungen über oder unter dem Durchschnitt verursachen Kosten und sind überwachungsaufwendig. Der Vorteil von Bürgern, deren Intelligenzquotient sich unter 100 aufhält, ist es, dass sie ihre Beschränkung nicht erkennen. Da erscheint kein kleiner gelber Kollege an der Datenautobahn des Gehirns und reißt ein Schild empor: Hier geht’s nicht weiter. Die gelben Kollegen tauchen erst ab 130 auf und machen unzufrieden.
    Frau Hagen war bereits in der Erweiterten Oberschule zum Jugendmitglied der Staatssicherheit geworden. Es befremdete sie nicht, Klassenkameraden zu überwachen und gegebenenfalls zu melden; ihr Charakter hatte sich bereits nach ihren Ansprüchen geformt, und sie wollte es gut haben. Sie bestand mit Bestnote, sie konnte mit einer Delegation nach Kuba reisen.
    Frau Hagen hatte keine Hemmungen, die alte Frau wegen Staatshetze zu melden, deren Wohnung sie im Anschluss bezog. Frau Hagen atmete jeden Morgen durch, in der Wohnung, die nun ihre war, sie strich sich ihren inneren Rock gerade und betrat das Heim wie einen Löwenzwinger. Frau Hagen fühlte sich im Recht. Und damit beginnt jedes Elend auf der Welt.

Und weiter.
    Toto nahm seine Einheitskleidung aus dem Schrank.
    Jedes Kind besaß seinen eigenen Spind, das lehrte sie, Verantwortung für Dinge zu übernehmen, Ordnung zu halten, verdammt noch mal Ordnung zu halten, wo sie doch die personifizierte Unordnung waren. Frau Hagen wusste, dass es ein fast aussichtsloses Anliegen war, aus Kindern von Dissidenten und Suchtkranken brauchbare Mitglieder des Arbeiter- und Bauernstaates zu machen. Doch wenn es einem von zehn gelänge, seine Genetik zu überwinden, dann hätte sich Frau Hagens Einsatz gelohnt.
    In Totos Schrank hing die Anstaltskleidung, Jacke, Unterwäsche; er war noch nicht Mensch genug, um darüber nachzudenken, warum da nichts Persönliches existierte, keine kleine Schachtel mit Fotos von den Eltern, kein Lieblingshemd, kein Bilderbuch. Toto versuchte, auf einem Bein zu stehen und das andere in die Hose zu stecken, das hätte einen rühren können, dieses Bild eines unfertigen Menschen, der noch nicht klar zu stehen vermag, und keine Eltern da, ihm die kleinen krummen Beine in Trikotagen zu stecken. Nur Frau Hagen, die ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, stand bereit. Beeil dich, die anderen wollen ja nicht warten, sagte sie und hatte nicht genug Humor, um sich belustigt dabei zu beobachten, wie sie ein Kleinkind ängstigte.
    Toto beeilte sich, verhedderte sich, fiel hin, weinte nicht. Keiner weinte hier. Sie hatten begriffen, dass die Erwartung von Trost einen schwächer macht, empfänglicher für Bosheit.
    Vielleicht war heute der Tag, an dem Kasimir neben ihm laufen würde, und diese Idee versetzte Toto in gute Laune. Über Gebühr schnell sprang er die Treppen hinter Frau Hagen hinab, sie war eine gute Erzieherin. Ein kurz gezischeltes: Wie steigen wir eine Treppe hinab? genügte, das Kind zum gemessenen Schreiten zu veranlassen.
    Die Kinder, die noch nicht in Schule oder Vorschule gingen, sollten an diesem Tag mit Frau Hagen einen Naturlehrgang unternehmen, der Kindergarten war geschlossen, es wurde renoviert. Es war kalt. Die Kinder trugen keine Mäntel, denn es war Sommer und Frau Hagen hatte auch zu diesem Thema eine unumstößliche Meinung. Man muss die Jahreszeiten respektieren. Wenn ich meinem Körper die Anweisung gebe, dass er sich sommerlich zu verhalten habe, dann wird er das tun. Menschenkörper sind zu erstaunlichen Leistungen befähigt. Ich las von Indern, die durch den Bauchnabel atmen können. Und ich meine, Inder, das sind Inder, die haben keinen Kontakt zum Sozialismus. Wenn also Inder sich dermaßen anpassen können, dass sie, wenn es zum Beispiel bei einer Flut erforderlich ist, durch den Bauchnabel zu atmen, tatsächlich durch den Bauchnabel atmen, dann können wir das auch. Es ist ja eine
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