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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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nahm sich zu wichtig, die Frau; wie alle Depressiven war sie überzeugt, dass alles sich gegen sie verschworen hatte, doch auf die einfache Idee, dass sie allen egal war und dieses Kind der einzige Mensch, für den sie eine Bedeutung haben, bei dem sie alles richtig machen konnte, auf diese Idee kam sie nicht.
    Es war fast Abend, als sie ein Dorf erreichte, das jenem, das sie Stunden vorher verlassen hatte, befremdlich glich. Eine Straße, zehn Häuser, eine seit Jahren geschlossene Kneipe. Ein Hund war nicht da. Noch nicht mal Hunde gibt’s in diesem System, sagte die Frau, und das Kind schien zu nicken. Toto war inzwischen ein paar Monate auf der Welt, und es wäre interessant gewesen, ihn zu fragen, ob er sein Leben fortsetzen wollte. Und falls ja, warum. Alles, was ihm bisher begegnet war, schien kaum dazu geeignet, Lust auf neunzig weitere Jahre zu machen.
    Die Frau würde in absehbarer Zeit den Entschluss fassen, sich von ihrem Kind zu verabschieden. Allein geblieben, verfiel sie weiter und sollte fünf Jahre später in einer schlechtgelaunten Nacht um zwei Uhr dreiundvierzig in ihrem Bett an einem Makrelenbrot ersticken. Bei der Beerdigung war niemand anwesend außer dem Genossen Krematoriumsvorsteher.

Und weiter.
    Toto wollte Kasimir zum Freund. Er verwendete das Wort Freund nicht in seinen Gedanken, es war ihm unbekannt.
    Er wünschte sich Kasimir nah.
    Er sah sich mit ihm am Boden sitzen. Er sah sich mit ihm im Bett liegen und an die Decke schauen. Und dann gebrach es ihm an Bildern, denn Toto hatte noch nie in seinem kurzen Leben einen ihm nahen Menschen gekannt, und er wusste daher nicht, was man mit dem unternehmen sollte.
    Kasimir lag ein paar Meter von Toto entfernt und betrachtete die Wand, was in Toto ein großes Gefühl von gemeinsamen Interessen entstehen ließ.
    Kasimir hatte, seit er vor drei Wochen angekommen war, mit niemandem geredet. Geschrien hatte er ununterbrochen, als ihm sein Stoffbär abgenommen wurde. Im Kinderheim Michael Niederkirchner waren Plüschtiere nicht erlaubt. Sie hätten die Kinder ablenken können, hindern, Teil der Gruppe zu werden und die Erziehungspersonen zu respektieren. Meist erforderte die Inhaftierung der Plüschtiere keinen großen Aufwand. Die Gepäckstücke der Kinder wurden durchsucht; was nicht willkommen war, entfernt, und traurig waren sie sowieso, die Kinder, was sollten sie auch guter Dinge sein, abgestellt wie kleine Möbel, meist noch Teil ihrer Eltern, so versoffen die auch gewesen sein mochten.
    Kasimir hatte, wie sein Geschrei vermuten ließ, eine enge Bindung zu seinem Bären aufgebaut, nachdem seine Mutter sich nicht mehr um ihn gekümmert hatte, weil sie verstorben war.
    Irgendwann hatte der Junge das Weinen eingestellt, das Ausdruck seiner wütenden Hilflosigkeit gewesen war und ihn so verspannt hatte, dass er kaum mehr Luft bekam. Seitdem war er stumm, und ein Geheimnis umgab ihn, das die anderen auf Abstand hielt.
    Die meisten Kinder im Heim hatten keine Geheimnisse. Sie waren aggressiv oder verstört, aber verbunden durch das fast identische Elend ihrer Biographien.
    Unklarheit wurde nicht geschätzt, in der Gruppe der Ausgestoßenen mochte man keine Andersartigkeit, und so blieb Kasimir allein. Darum war auch Toto allein. Er verstand noch nicht, dass er für die anderen wirkte wie von einer gelben Wolke umgeben. Anders als Kasimir, der in der Wand einen Freund gefunden zu haben schien, hätte Toto gern geredet, sich abends mit den anderen Gruselgeschichten erzählt. Er wollte nicht allein in einer Ecke sitzen. Er wollte sein wie alle und wusste nicht, dass es eine unsichtbare Mauer gab, die ihn von den anderen trennte.
    Toto hatte kein Gefühl für eine Vergangenheit oder eine Zeit, für ihn gab es den Moment, und der fand im Heim statt. Toto erinnerte sich nicht an seine Mutter, nicht an Alleen mit Apfelbäumen, unruhig wurde er nur, wenn er Alkohol roch, doch den kleinen Tick teilte er mit den meisten Kindern im Kinderheim Michael Niederkirchner.
    Früher waren in dem Haus russische Soldaten stationiert gewesen, denen war das Gebäude wohl zu zugig geworden, vielleicht benötigte der junge Staat auch weniger Überwachung des Freundesbruders, weil sich der Sozialismus verselbständigt, die früher überzeugten Faschisten sich zu vorbildlichen Kommunisten gewandelt hatten. Nun schwangen sie wieder Fahnen: Scheiß der Hund drauf, welche Farbe!
    Das Gebäude der ehemaligen Kaserne war auf die Bedürfnisse von Kindern eingerichtet.
    Fließendes
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