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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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UNVERHOFFTER BESUCH

    Als Tschuang Tse um die Mittagszeit von einem Spaziergang zurückkehrte, wartete ein junger Mann vor seinem Haus, verneigte sich höflich und fragte: »Bist du Tschuang Tse?«
    »Ja, der bin ich.«
    »Mein Name ist Min Teng. Ich habe eine Nachricht für dich.«
    »Laß uns hineingehen«, erwiderte Tschuang Tse.
    Der junge Mann folgte ihm ins Innere seines kleinen Hauses, schloß die Tür hinter sich und sagte: »Es ist keine gute Nachricht. Du wirst jetzt sterben!«
    Min Teng zückte seinen Dolch, doch etwas hinderte ihn daran, den todbringenden Stoß auszuführen. War es
die Verblüffung darüber, daß Tschuang Tse nicht die geringste Furcht vor dem Sterben zeigte? Nicht eine Spur von Angst war in seinem Blick. Er sah Min Teng mit einer Gelassenheit an, die ihn maßlos verwirrte.
    Je länger Min Teng in Tschuang Tses Augen sah, desto deutlicher wurde ihm bewußt, daß er ihn nicht töten konnte, ohne zuvor herauszufinden, warum er sich nicht vor dem Sterben fürchtete. Außerdem hatte ein Mann, der mit solchem Gleichmut der Zerstörung seines Lebens entgegensah, eine Aufklärung über den Grund seines Todes verdient. Min Teng senkte langsam den zum Dolchstoß erhobenen Arm.
    »Wollen wir uns nicht setzen? Meine Beine sind etwas müde von meinem Spaziergang.«
    Min Tengs Verwunderung über Tschuang Tses Sorglosigkeit wuchs. Hatte der Mann, den viele für einen bedeutenden Weisen hielten, seinen Verstand verloren?
    Unwillkürlich streifte Min Tengs Blick über die karge Einrichtung des Raumes. Tschuang Tse lebte in Armut. Nur das Allernötigste war in dem kleinen Haus vorhanden und von den Spuren langen Gebrauchs gezeichnet. Seine abgetragene Kleidung hatte kleinere Löcher und Risse, seine Schuhe waren mit Schnüren zusammengebunden, damit sie nicht auseinanderfielen.
    Die Tötung des schlanken, fast schmächtigen Mannes, der in Lumpen herumlief und sich gerade so unbekümmert auf einem der beiden zerschlissenen Sitzkissen niederließ, als hätte er die Lage der Dinge überhaupt nicht
verstanden, würde ein Kinderspiel sein. Tschuang Tse war nicht mehr der Jüngste und trug keine Waffe am Körper, mit der er sich hätte verteidigen können. Er strahlte mit allen Fasern seines Wesens aus, daß er kein Kämpfer war. Von diesem seltsamen Mann ging nicht die geringste Gefahr aus, er wirkte wehrlos und arglos wie ein Kind. Ohne daß Min Teng hätte sagen können warum, störte ihn die Leichtigkeit, mit der sich Tschuang Tses Leben vernichten ließ.
    »Hast du keine Angst vor dem Tod?« fragte Min Teng, schob seinen Dolch in die Scheide zurück und setzte sich auf das andere Strohkissen.
    »Warum sollte ich?«
    »Alle Menschen fürchten den Tod!«
    »Nur diejenigen, die nicht wissen, daß er nicht zu fürchten ist. Warum willst du mich töten?«
    »Hauptmann Feng, der Führer der Palastwache des Prinzen Yan, gab mir den Befehl dazu. Prinz Yan hält dich für einen gefährlichen Mann, dessen Gedanken und Worte die Menschen im Land in geistige Verwirrung stürzen könnten.«
    Tschuang Tse lachte auf. »Sie sind bereits so verwirrt, daß es unmöglich wäre, sie in noch größere Verwirrung zu stürzen!«
    »Du lachst im Angesicht deines Todes?«
    »Ich lache, weil ich etwas Lustiges gehört habe.«
    »Deine Furchtlosigkeit beeindruckt mich.«
    »An dir kann ich bislang nichts Beeindruckendes entdecken.«

    »Ich bin nicht hier, um dich zu beeindrucken.«
    »Darf ich dir eine Schale Wasser anbieten?« fragte Tschuang Tse und stand auf.
    Während Min Teng noch darüber nachdachte, ob es recht war, Wasser von einem Mann anzunehmen, den er gleich erdolchen würde, hatte Tschuang Tse einen Krug mit Wasser und zwei Schalen auf den Tisch gestellt und sich wieder auf dem Sitzkissen niedergelassen.
    Min Teng goß Wasser in eine der beiden Schalen. »Genieße dieses Wasser! Es wird dein letztes sein.«
    »Ich frage dich, Min Teng: Ist es nicht verwunderlich, daß ein mächtiger, reicher Mann wie Yan, der Prinz von Sung, einen machtlosen, armen Mann wie mich so sehr fürchtet, daß er meinen Tod will?«
    »Es steht mir nicht zu, die Beweggründe des Prinzen in Frage zu stellen. Du bist ein Schädling, denn dein Denken vergiftet den gesunden Menschenverstand, auch wenn manche dich für einen Dichter halten, sogar für einen Weisen. Trinke dein Wasser, Tschuang Tse!«
    Tschuang Tse nahm die Schale und stellte sie vor Min Teng auf den Tisch. »Trink du es! Oder fürchtest du, daß es vergiftet ist?«
    Min Teng
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