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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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widerstand dem Drang, erneut seinen Dolch zu ziehen. Warum zögerte er, den Befehl des Prinzen von Sung auszuführen? Sicherlich war es Tschuang Tses Furchtlosigkeit, die ihn nach wie vor beeindruckte, aber mehr noch war es das Verlangen zu erfahren, was der Grund dieser Todesverachtung war. Er saß keinem gebrechlichen Greis gegenüber, der ohnehin bald sterben
würde, sondern einem Mann im Herbst seines Lebens, der heiter und zufrieden wirkte, offensichtlich bei bester Gesundheit war und sich noch viele Jahre seines Daseins erfreuen konnte.

DIE AUSKUNFT DES TOTENSCHÄDELS

    »Warum ist deiner Ansicht nach der Tod nicht zu fürchten, obwohl fast alle Menschen Angst vor ihm haben?« fragte Min Teng.
    »Sie fürchten ihn, weil sie ihn nicht kennen.«
    »Du kennst ihn auch nicht, Tschuang Tse. Aber du wirst ihn gleich kennenlernen! Danach wirst du mir allerdings nicht mehr sagen können, ob er wirklich nicht zu fürchten ist.«
    »Min Teng, wie kannst du wissen, ob die Furcht vor dem Tod nicht der Furcht eines Kindes gleicht, das glaubt, ins Ungewisse, ins Unbekannte zu gehen, ohne zu wissen, daß es sich in Wahrheit auf dem Heimweg befindet? Ein Mädchen, Tochter armer Eltern, wurde gegen seinen Willen an den Hof eines Königs geholt und weinte deshalb bittere Tränen. Als es jedoch im Palast
des Königs lebte, mit ihm das weiche Lager teilte und das üppige Mahl an seiner Tafel genoß, bereute es seine Tränen bald. Ich frage dich, Min Teng: Wie kannst du wissen, daß die Toten nicht auch bereuen, einst mit allen Fasern ihres Wesens am Leben gehangen zu haben?«
    »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Auch du nicht, Tschuang Tse!«
    »Wie kannst du das wissen? Du bist nicht ich.«
    »Weil du ein Mensch bist, und kein Mensch weiß, was nach dem Tod sein wird.«
    »Und wenn ich es weiß, obwohl ich ein Mensch bin?«
    »Wie solltest du es wissen können?«
    »Die Einsicht ist zu mir gekommen, ohne daß ich sie gesucht habe. Alles wahre Wissen kommt auf diese Weise. Der Tod ist nicht etwas, das wir fürchten sollten.«
    Min Teng fragte sich, ob es möglich war, daß ein Mensch mehr vom Tod wissen konnte als die anderen.
    »Vor vielen Jahren unternahm ich eine Wanderung«, erzählte Tschuang Tse. »Ich wandere gern ziellos umher, weil dies die beste Art ist, ans Ziel zu kommen. Dabei fand ich einen Totenschädel, der von der Witterung gezeichnet war, aber seine Form bewahrt hatte. Ich berührte ihn mit meinem Wanderstab und fragte: ›Warst du einmal ein allzu Gieriger, dessen Maßlosigkeit dich hierher gebracht hat? Oder ein Verräter, der mit dem Beil hingerichtet wurde? Warst du ein gemeiner Schurke, der Schande über seine Familie gebracht hat? Vielleicht ein Bettler, der durch Hunger und Kälte umkam? Oder bist du ganz einfach an Altersschwäche gestorben?‹
    Ich nahm den Schädel auf meine Wanderung mit und legte ihn später, als ich müde wurde, wie ein Kissen unter meinen Kopf. Im Traum erschien mir der Totenschädel und sagte: ›Du hast zu mir gesprochen wie ein Schwätzer. Alle deine Worte drückten nur die Sorgen der Lebenden aus. Im Tod aber gibt es nichts von alledem. Soll ich dir etwas vom Tod erzählen?‹
    Ich bat ihn darum, und er sagte: ›Im Tod gibt es kein Oben und kein Unten, keinen Herrscher und keinen Knecht. Es gibt keine Zeit und auch keinen Raum. Das Glück eines Königs auf seinem Thron ist gering im Vergleich zum Glück der Toten.‹
    Ich glaubte dem Totenschädel nicht und fragte ihn: ›Wenn ich das Schicksal lenken würde und deinen Körper zu neuem Leben erwecken könnte, dir wieder Fleisch und Knochen, Haut und Muskeln, Familie und Freunde geben würde, wärst du darüber nicht erfreut?‹
    Der Schädel starrte mich aus seinen Augenhöhlen an und antwortete: ›Warum sollte ich mein himmlisches Glück aufgeben, um wieder alle Mühen, Sorgen und Leiden der Menschenwelt auf mich zu nehmen?‹
    Nach dieser Antwort erwachte ich aus meinem Traum und wußte, daß ich das Ziel meiner Wanderung erreicht hatte. Denn ein Toter hatte mir etwas Wesentliches über den Tod erzählt.«
    Min Teng schüttelte unwillig den Kopf. »Ich habe auch schon seltsame Träume gehabt, aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ihnen eine wirkliche Bedeutung zuzumessen.«

    »Das wundert mich nicht, denn du bist ein Handlanger des Prinzen von Sung, der bekanntlich ein gewissenloser Schurke ist. Wie kann man von einem Menschen wie dir erwarten, daß er die Weisheit versteht, die uns durch unsere Träume
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